Robert versteift sich, drückt kurz Morgans Hand, dann salutiert er, Morgan erwidert den Gruß, einen Moment scheint er verunsichert.
Robert verlässt Morgans Büro, geht die Treppe Stufe für Stufe hinunter. Sein Kopf fühlt sich an wie nach einem Granateinschlag, wenn die Druckwelle einen von den Füßen holt. Oder wie nach einem schweren Besäufnis, wenn die Realität noch verzerrt ist und man keinen klaren Gedanken fassen kann. Was hätte er tun können? Ablehnen? Vielleicht wäre er mit einer Degradierung davongekommen. Da würde sogar sein Vater nicht dran rütteln können. Nach Hause würde Morgan ihn dann so schnell nicht mehr lassen. Amerika wird die Deutschen noch in hundert Jahren bewachen müssen.
Was zum Teufel hat er getan, dass Morgan ihn so straft?
Bundesrepublik Deutschland, München, 23.3.1952
Der Jeep hält am Straßenrand. Robert steigt aus, dreht sich einmal im Kreis. Kaum Kriegsschäden an den Häusern. Gaslaternen säumen die Straße. Geschäfte aller Art sind geöffnet und bieten die unterschiedlichsten Waren an: gehobene Bekleidung, Küchenzubehör, elektrische Geräte, Fernseher, Radiogeräte. Die Gegend ist wohlhabend, die Geschäfte nach der Hamsterwelle zu Beginn des Koreakrieges wieder gut gefüllt. Aus Angst vor dem Weltuntergang kauften die Deutschen, was das Zeug hielt, bunkerten Kartoffeln, Mehl, Zucker und Konserven aller Art. Selbst die Schwarzmärkte waren wie leer gefegt, nichts war mehr zu bekommen. Hier muss niemand auf dem Schwarzmarkt einkaufen und jeden Moment damit rechnen, verhaftet zu werden. Die Passanten sind bestens gekleidet. Robert wird sich in den Läden mit einer neuen Garderobe eindecken.
Es riecht nach Qualm aus Kohleöfen, ein leichter Wind weht und verhindert, dass der Rauch sich über die Stadt legt. Im vergangenen Dezember war es schlimm gewesen. Die Abgase der Autos, Zehntausender Kohleöfen und die entsprechende Wetterlage sorgten für zwei Wochen andauernde stickige Luft. Manchmal konnte man kaum zehn Meter weit sehen. Zu Hunderten starben alte Menschen, und viele Kinder wurden krank, schwerer Husten grassierte, die Ärzte waren überfordert. Doch auch das ging vorüber.
Der Fahrer überreicht ihm ein Schlüsselbund: Haustüre, Wohnung und Keller. Robert bedankt sich, grüßt, der Fahrer schwingt sich in den Jeep, fährt davon, hupt sich den Weg frei.
Robert wiegt das Bund in seiner Hand. Sicherheitsschlüssel, alle drei. Er steckt auf Anhieb den richtigen ins Schloss. Er gleitet geschmeidig hinein, lässt sich leicht drehen, die Tür schwingt geräuschlos auf und schließt sich hinter ihm von selbst. Es riecht nach Bohnerwachs. Robert fühlt sich sofort heimisch. Mutter hat immer samstags die Holzböden gewachst. Vater wollte, dass Sonora, das Hausmädchen, diese Arbeiten übernimmt, aber Mutter blieb eisern. »Samstags hat Sonora frei und dabei bleibt es. Punkt!« Damit war die Diskussion beendet, und Vater versuchte nicht, sie umzustimmen, wenn sie eine Entscheidung mit dem Wort »Punkt!« unterstrich. Robert wundert sich bis heute, warum sein Vater ihr so oft nachgegeben hat, selbst wenn er gegenteiliger Meinung war und nach seiner Überzeugung – als Oberhaupt der Familie – das Recht auf ein Veto hatte.
Robert tritt auf die erste Stufe der geschwungenen Treppe. Kein Knarren, das Holz gibt nicht nach, nichts reibt. Die Wände sind mit einer Blumentapete verkleidet. Bunte Blüten einer ihm unbekannten Art auf cremefarbenem Untergrund. Er steigt die Treppe in die dritte Etage hinauf, an den Türen hängen keine Namensschilder, an seiner ebenfalls nicht. Wozu dann ein Deckname? Robert wird ihn nicht benutzen. Das ist sinnloses Kasperltheater, nichts weiter. Müsste er in den Osten, dann bräuchte er mehr als einen Decknamen. Er bräuchte eine neue Existenz mit Papieren, Lebenslauf und einer tragfähigen Legende.
Auch diese Tür öffnet sich wie von selbst. Alles hier ist gepflegt, geschmiert und in bestem Zustand. Robert betritt seine neue Wohnung. Es ist warm, kein Geruch von verbranntem Holz oder von Briketts – Gas heizt die Zimmer, ein unglaublicher Luxus. Das Bad hat kein Außenfenster, aber eine Badewanne, darüber hängt ein Boiler für heißes Wasser, ebenfalls gasbetrieben. Die kleine blaue Zündflamme flackert vor sich hin. Morgan lässt sich nicht lumpen.
Robert stellt sich vor, wie er in der Wanne liegt, »Die Mars-Chroniken« von Ray Bradbury zu Ende liest und einen anständigen Whiskey schlürft. Will Morgan ihn einlullen? Was wartet auf ihn zwischen den Deckeln der Mappe? Es wäre an der Zeit, sich die Akten anzusehen, aber Robert macht, was er immer macht, wenn er den Standort ändert. Er inspiziert sein neues Domizil. Ihm ist es wichtig, seine Umgebung zu kennen, zu wissen, welche Wege es gibt, falls er fliehen muss. Er überprüft genau, auf welche Schwachstellen er achtgeben muss, durch die jemand eindringen könnte. Er prägt sich die Möbel seiner Wohnung genau ein, muss wissen, was er hat und wo es steht, muss sich in der Küche auskennen, damit er sich in einem Gespräch nicht verrät, wenn er behauptet, er wohne dort schon ein Jahr. Solche Fehler könnten ihn enttarnen, könnten tödlich sein. Nur den Keller wird er nicht begutachten, da er ihn nicht betreten wird.
Warum ist er eigentlich hier? Warum hat Morgan ihn ausgewählt? Warum niemand anders? Seine Wut steigert sich. »Ich sollte nicht hier sein, verdammt«, sagt er und macht mit der Inspektion weiter, so wie er es gelernt hat. Er prägt sich alles ein, Robert kann sich in kürzester Zeit Dutzende Details merken und sie Tage, ja Wochen später abrufen, als läse er sie von einem Zettel ab.
In der Wohnung stehen Möbel vom Beginn des 20. Jahrhunderts: geschwungenes, gedrechseltes Holz, dicke Polster. Gott sei Dank nicht die kalten, schmucklosen, simplen, mit Kunststoff überzogenen Dinger, die jetzt so in Mode sind. Die Küche ist mit modernen Geräten ausgerüstet: Kaffeemaschine, elektrisches Rührgerät, Toaster, Mixer. Sie grenzt an den Hinterhof, das Fenster ist nicht vergittert und in gutem Zustand. Es aufzubrechen würde Lärm machen. Im Wohnzimmer warten ein Fernsehgerät und ein Radio, hier gehen die Fenster auf die Straße hinaus, eine Feuerleiter führt auf die Straße hinunter. Ein Fehler. Denn die Leiter kann man auch heraufklettern. Aber auch dieses Fenster ist solide und nur mit brachialer Gewalt von außen zu öffnen.
Das Schlafzimmer ist so groß, dass das französische Bett klein darin wirkt. Ein Kleiderschrank aus dunklem Holz mit eingelassenen Spiegeln bedeckt eine ganze Wand. Robert stellt seinen Koffer auf das Bett, öffnet ihn, nimmt seine Sachen heraus. Ein Anzug, die Uniform, Unterwäsche und Hemden für vier Tage.
Das Schiff, das nun ohne ihn in die Heimat unterwegs ist, verfügt über eine Wäscherei, deshalb hat er nicht mehr Kleidung mitgenommen. Den Schlafanzug wirft er achtlos auf das Bett. Er will nicht hier sein. Er stellt das Rasierzeug, Eau de Cologne, die Zahnbürste ins Bad. Robert braucht nicht einmal ein Zehntel des Platzes, den das Waschbecken und der Badschrank bieten, um seine Habseligkeiten unterzubringen.
Seine Uniform trägt im Gegensatz zu den meisten Offizieren das CIC-Rangabzeichen, üblicherweise hat das CIC keine Befehlsgewalt über andere Offiziere des Heeres. Es sei denn, sie sind mit Vollmachten ausgestattet wie Robert. Auch das ist die Folge seiner Abstammung. Sein Vater hat darauf bestanden und Robert war es recht.
Er geht zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Sekretär thront eine Adlerschreibmaschine, daneben steht ein Telefon. Schlafzimmer, Küche, Bad, Wohnzimmer – Robert schätzt die Wohnung auf mindestens achtzig Quadratmeter. Die Zimmer sind alle vom Flur aus zu erreichen und miteinander verbunden. Das sind einige Meter, die er zurücklegen kann, wenn er nachdenken muss: Im Kreis laufen befeuert seinen Geist. Die Wohnung ist viel zu groß, zu protzig.
Читать дальше