Wie sehr sie auch diesen Namen hasst, sie muss sich selbst so nennen, damit sie ihre Beute täuschen kann. Sie muss den Namen in ihrem Unterbewussten verankern, damit sie unwillkürlich reagiert, wenn er gerufen wird. Aus Anna Münzinger wird Herta Müller.
Den Namen hat ihr Oberst Jukowski verpasst. Der Name soll für Durchschnitt stehen. Alles an Herta Müller soll Durchschnitt sein: Größe, Gesicht, Haare. Wer sie beschreibt, wird eine Frau gesehen haben, wie sie es zu Tausenden gibt. Das macht sie fast unsichtbar. Sie trägt einen knielangen mittelbraunen Rock, ebenso braune Lederschuhe mit wenig Absatz. Sie hat sich dezent geschminkt, sie soll auf keinen Fall in irgendeiner Weise hervorstechen.
Anna steigt in die Straßenbahn, löst eine Karte nach Zehlendorf. Ihre Beute trifft sich mit ihr im Kaffeehaus Bertelmann an der Ecke Schellingstraße und Barer Straße. Es ist das vierte Treffen, und heute muss es gelingen. Eigentlich viel zu früh, aber die Überwachung Auerbachs hat ergeben, dass er in wenigen Tagen nach Düsseldorf ausgeflogen wird. Dort ist er außer Reichweite. Deswegen hat sie sich auch den Nachmittag freigenommen, damit sie sich mit Auerbach treffen kann.
Sie greift in die Manteltasche, fühlt das Glasfläschchen. Sie muss vorsichtig sein. Joseph Auerbach ist misstrauisch. Kein Wunder. Er ist ein Mörder und hat viel zu verlieren. Aber die Amis schützen ihn, haben ihn reingewaschen, weil sie ihn brauchen. Er ist Ingenieur für Wassertechnik, maßgeblich am Aufbau der Berliner Wasserversorgung beteiligt. Jetzt soll er das Gleiche in Düsseldorf machen und danach im Ruhrgebiet. Es gibt nur noch wenige Spezialisten in Deutschland auf diesem Gebiet.
Die Bahn rumpelt vorbei an Trümmern. Es geht langsam voran. Nicht einmal zehn Prozent des Schutts sind beseitigt, es fehlt an schwerem Gerät. Also müssen alle ran. Vergangenen Sonntag ist wieder Trümmertag gewesen. Anna spürt noch immer jeden einzelnen Knochen. Die ganze Nachbarschaft hat von morgens bis abends Steine geschleppt. Vor dieser Arbeit kann sie sich nicht drücken, das würde Verdacht erregen.
Anna geht ihren Plan in Gedanken durch, immer wieder. Sie muss Auerbach dazu bringen, einen Spaziergang mit ihr zu machen. Zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, hin zu einem ganz bestimmten Ort. Sie kennt Auerbachs Gewicht, sie hat das Morphin-Scopolamin so dosiert, dass Auerbach nach dreißig Minuten das Bewusstsein verliert. Zehn, vielleicht fünf Minuten vorher wird er die Wirkung spüren. Dann wird er unruhig werden, vielleicht Alarm schlagen. Die Amerikaner haben ein Merkblatt herausgegeben, woran man den Versuch einer Entführung erkennen kann. Die Wirkung von Morphin-Scopolamin und anderer Drogen ist darauf genau beschrieben. Das Zeitfenster ist eng, verdammt eng. Aber sie wird ihn da packen, wo sich alle Männer packen lassen.
Die Bahn hält, sie muss aussteigen. Das Kaffeehaus liegt direkt um die Ecke. Sie geht los. Auf der anderen Straßenseite steht ein groß gewachsener Mann in grauem Anzug und betrachtet ein Schaufenster. Sie kennt ihn nicht, aber er verhält sich seltsam. Schaut zu ihr, dann wieder auf das Schaufenster. Zieht eine Packung Zigaretten aus der Tasche. Zündet sie an. Ein Zeichen an eine Greiftruppe? Ist sie enttarnt? Hat Auerbach etwas gemerkt? Wieder dreht sich der Mann um, späht die Straße hinunter. Eine Frau tritt aus einem beschädigten Haus. Der Mann wirft die halb gerauchte Zigarette auf den Boden, tritt sie aus. Er muss gut betucht sein, wenn er so verschwenderisch mit Zigaretten umgeht. Ein Kippensammler wird sich freuen. Die Frau fliegt ihm in die Arme, sie küssen sich leidenschaftlich, gehen Arm in Arm davon. Fehlalarm.
Die anderen Passanten benehmen sich unverdächtig, dennoch beobachtet sie jeden und alles. Das kostet Kraft. Sie kann diese Konzentration nicht den ganzen Tag aufrechterhalten. Auf eine Rückendeckung hat sie verzichtet. Zu gefährlich. Zu leicht erkennbar und letztlich sinnlos. Eine Waffe darf sie nicht tragen, würde sie damit erwischt, wäre sie erledigt. Es gibt immer wieder spontane Kontrollen, ganze Viertel werden abgesperrt, keiner kann entkommen.
Anna geht weiter, überquert die Straße, kehrt um. Niemand bleibt plötzlich stehen oder ändert die Richtung. Sie biegt um die Ecke, das Kaffeehaus ist so gut wie unbeschädigt. Nicht eine Scheibe ist zu Bruch gegangen in den Bombennächten. Ein Wunder. Als sie es betritt, schlagen ihr beißender Zigarettenqualm und die gedämpften Stimmen der Gäste entgegen. Irgendjemand schmaucht Pfeife, der angenehme, würzige Geruch dämpft ein wenig den der scharfen Zigaretten. Anna raucht nicht, und der Qualm macht ihr nicht wirklich etwas aus. Er ist nicht schlimmer als die abgasgeschwängerte Luft, die oft über der Stadt hängt, wenn das Wetter ungnädig ist und einen Deckel aus kalter Luft über Berlin stülpt, der den Luftaustausch unmöglich macht. Das Wetter ändert sich immer wieder, doch das Misstrauen, die Angst und das Vergessen-Wollen, die über der Stadt und dem ganzen Land liegen, ändern sich nicht. Wenn sie Auerbach fangen kann, wird sie dazu beitragen, dass ein wenig Erinnerung an die Verbrechen der Nazis wach bleibt, Erinnerungen, die im Westen unter Schweinebraten, Nylonstrümpfen und Autos erstickt werden. Sie lenkt ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Menschen. Kellner huschen zwischen den Tischen hin und her, hier muss niemand lange auf seine Bestellung warten. Sie entdeckt den Pfeifenraucher. Feistes Gesicht, runde Hüften, Kugelbauch. Vor ihm steht ein Teller mit drei Stück Kuchen, eines davon bereits zur Hälfte gegessen. Der Mann scheint zufrieden. Seine Seele fühlt sich wohl, eingehüllt in Tabak, Zucker und Fett. An einem anderen Tisch tuscheln drei junge Frauen miteinander. Sie sind modisch gekleidet, in Pariser Chic, ganz Dior: Wellenlinien, leichte Stoffe, die am Körper hinabfließen, weiche, runde Formen. Sie sind schön anzusehen. Anna gefällt diese neue Weiblichkeit, doch sie selbst kann solche Kleider nicht tragen. Sie muss eine graue Maus sein, für die sich niemand umdreht. Jeder Tisch ist besetzt, an einem sitzen Männer im Frack. Anna fragt sich, warum sie um diese Tageszeit so gekleidet sind. Vielleicht haben sie sich hier verabredet, um gemeinsam zu einem Empfang zu gehen? Nicht ihr Problem. Niemand scheint verdächtig.
Auerbach hat sie noch nicht entdeckt. Er sitzt am Fenster in einem Sessel und ist in die Tageszeitung vertieft. Anna ist zehn Minuten zu früh, er rechnet noch nicht mit ihr.
Sie tritt von hinten an ihn heran. »Ist hier noch ein Platz frei?«
Die Zeitung fällt raschelnd auf den runden Marmortisch, Auerbach springt auf, in seinem Gesicht mischen sich Freude und Verlegenheit. »Herta, wie schön, Sie zu sehen, aber selbstverständlich.«
Sie beugt sich zu ihm hin, schließt die Augen, gibt ihm zu seiner Überraschung einen leichten Kuss auf die Lippen. Sie sind weich und trocken, Gott sei Dank. Sie spürt leichte Übelkeit aufsteigen. Er riecht nach Moschus, er muss auf dem Schwarzmarkt einkaufen, so etwas gibt es nicht in den Kaufhäusern.
»Setzen Sie sich doch.« Er zeigt auf den anderen Sessel. Roter Plüsch. »Was darf ich Ihnen bestellen?«
Anna zieht den Mantel aus, Auerbach will ihn nehmen, um ihn an die Garderobe zu hängen, aber sie schüttelt den Kopf. »Lisa ist neulich der Mantel gestohlen worden.«
Auerbach zieht die Hand zurück. »Sie haben recht, man kann nie vorsichtig genug sein. Die Stadt ist voller Diebe.«
Und voller Menschen, denen das Nötigste fehlt. Sie ist erstaunt, dass es nicht viel mehr Überfälle gibt, dass sich die Vergessenen nicht zusammentun, um ihr Recht auf ein würdiges Leben durchzusetzen. Anna nimmt Platz, drapiert den Mantel über der Lehne. Auerbach rückt seinen Sessel noch etwas näher an ihren, dann lässt er sich in seinen Sessel gleiten. Er ist schlank, kein Gramm Fett zu viel, er hält sich fit, und er sieht nicht schlecht aus. Stattlich, dennoch jungenhaft. Und vor allem harmlos, als könne er kein Wässerchen trüben. Anna weiß es besser.
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