Er öffnete seinen Schirm und ging gemächlichen Schrittes in Richtung seiner Dienststelle. In Gedanken war er noch immer bei der zufälligen Begegnung in der Bahn.
Wie sich ein Mensch in wenigen Monaten doch verändern kann, dachte er. Bei ihrer ersten, einschneidenden Begegnung im April wirkte sie verzweifelt, schüchtern und sie schien sich selbst nicht zu mögen. Heute machte sie auf ihn den Eindruck einer selbstsicheren, strahlenden, das Leben bejahenden, jungen Frau. Wenn er sich ihr Bild nach diesen wenigen Minuten erneut ins Gedächtnis rief, musste er sich eingestehen, dass ihm dieses Bild gefiel.
Zum Glück hatte er ihr nicht gesagt, dass er Kommissar bei der Kriminalpolizei war. Er hatte festgestellt, dass es die meisten Menschen abschreckt, sich privat mit einem Polizisten zu unterhalten. Wie hatte sein ehemaliger Kollege Frank Eisenstein einmal gesagt: Wenn die Menschen in Not sind oder Hilfe benötigen, rufen sie nach der Polizei. Geht es ihnen wieder gut, sehen sie die Polizei lieber von hinten.
Trotzdem beschloss er, sie in Kürze anzurufen und wenn möglich ein Treffen mit ihr zu vereinbaren.
An manchen Tagen betritt man nicht mit besonders viel Euphorie sein Büro. Insbesondere dann nicht, wenn es draußen regnet und man mit dem aufgespannten Schirm durch Wind und Regen laufen muss und die Hosenbeine bis zu den Oberschenkeln hin nass sind.
Schlechtgelaunt stellte Ronni den vor Wasser triefenden Schirm am Garderobenständer ab und entledigte sich seiner Jacke, die ebenfalls vom Regen nicht verschont geblieben war. Das Wasser tropfte von ihr auf den Boden und bildete dort in kurzer Zeit eine Pfütze.
Lediglich ein knappes „Morgen“ zu Sybille Baum, seiner Sekretärin und Bürogehilfin, kam lustlos über seine Lippen.
„Morgen, Ronni“, begrüßte ihn Sybille auch nicht gerade enthusiastisch.
Normalerweise war sie morgens immer gut gelaunt und freundlich. Aber an diesem Morgen schien ihr eine Laus über die Leber gelaufen zu sein. Oder war es das Wetter? Dafür hätte er Verständnis.
„Du hast bereits netten Besuch“, überraschte sie ihn und zeigte zu seinem Schreibtisch.
Mein Gott, der Büroalltag fängt ja bereits gut an. Wer besucht mich denn so früh am Morgen?, dachte er. Erst jetzt sah er, dass jemand auf dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch saß und eine Zeitung aufgeschlagen in den Händen hielt.
Es ist erstaunlich, wie manchmal ein kleiner Impuls oder Anlass reicht, um die Stimmung komplett umzukrempeln. Sowohl zum Positiven als auch zum Negativen. In diesem Fall schlug Ronnis Stimmung in Freude um.
„Hallo Frank – der frischgebackene Pensionär hat Sehnsucht nach seiner früheren Wirkungsstätte?“, begrüßte er seinen ehemaligen Kollegen Frank Eisenstein.
Frank warf die Zeitung auf den Schreibtisch, stand auf und umarmte seinen Freund und ehemaligen Kollegen herzlich.
„Nein, ich hatte zufällig in der Gegend zu tun und wollte nur kurz ‚Hallo‘ sagen“, wiegelte Frank mit einem Lächeln ab.
„Ja, natürlich. Kann ich durchaus verstehen. Ramersdorf ist ja auch der Nabel der Welt, wo man immer etwas zu erledigen hat“, lachte Ronni.
„Egal, komm setz dich. Ich freue mich, dass du vorbeigekommen bist. Ich habe Zeit, wir können in Ruhe plaudern. Warst du schon in den anderen Büros und hast dort die Kolleginnen und Kollegen begrüßt?“, fragte Ronni.
„Nein, das möchte ich nicht, sonst heißt es noch, der Alte hat zu viel Zeit und hält uns nur von der Arbeit ab. Aber es stimmt – ich habe Zeit, leider zu viel.“
„Ich verstehe, aber ich bin sicher, das wird sich irgendwann einpendeln. Du bist gerade mal ein paar Wochen in Pension und du wirst dich an den Ruhestand noch gewöhnen. Bald wird die Zeit kommen, dass du, wie viele andere Pensionäre überhaupt keine freie Minute mehr hast, weil du mit allen möglichen Sachen beschäftigt bist, für die du während der Berufstätigkeit keine Zeit hattest.“
Ronni versuchte, seinen Freund aufzumuntern und ihm eine Perspektive zu geben, denn er hatte den Eindruck, dass der Ruhestand ihm stark zusetzte.
„Von wegen ein paar Wochen. Es sind inzwischen zwei Monate. Früher, ich meine, als ich noch im Dienst war und es kommt mir vor, als wären es Jahre her, verrann die Zeit wie im Fluge. Jetzt tickt sie langsam und gleichmäßig vor sich hin. Ein Tag vergeht wie der andere. Diese Zeit der Eintönigkeit ist wie ein Dieb. Sie stiehlt mir Stunden und Tage meines Lebens – und dann noch dieses Sch…wetter.“
Ronni war beinahe erschüttert über das, was sein Freund von sich gab.
„Es wird auch wieder irgendwann die Sonne scheinen und dann kannst du am Rhein spazieren gehen oder Fahrrad fahren. Ich beneide dich um diese Freiheit. Wenn man berufstätig ist, wünscht man sich mehr Zeit für solche Aktivitäten. Hat man wie du die Möglichkeit dazu, ist der Wunsch plötzlich nicht mehr vorhanden.“
Ronni lebte inzwischen sechs, sieben oder waren es bereits zehn Jahre in Bonn und er war in dieser Zeit maximal dreimal in seiner Freizeit am Rheinufer gewesen. Frank war wahrscheinlich während seiner viel längeren Dienstzeit in Bonn höchstwahrscheinlich nie am Rhein gewesen. Hobbys hatte er keine und Freizeitaktivitäten waren für ihn verpönt. Er hatte sich überwiegend seiner Arbeit verschrieben. So wie Frank wollte Ronni nicht enden – wobei enden sicherlich das falsche Wort war. Er glaubte, dass der Zeitpunkt auch für ihn jetzt schon reif war, etwas zu ändern. Sich vorzubereiten, einen Plan zu erstellen, für die Zeit nach seinem Beruf. Aber wie und was? Einfach würde es jedenfalls nicht werden.
„Was hältst du von einem Kaffee? Ich sehe gerade, Sybille hat welchen aufgebrüht.“
Ronni schaute zu dem halbhohen Aktenschrank in der Nähe von Sybille Baums Schreibtisch, auf dem eine alte Kaffeemaschine vor sich hin gurgelte. Sybilles Kaffee war berühmt und berüchtigt. Er weckt Tote auf, sagte Ronni einmal.
„Nein, danke. Wenn es gestattet ist, hole ich mir eine Tasse heißes Wasser in der Küche. Einen Beutel grünen Tee habe ich immer dabei.“
Frank griff in seine Hosentasche und holte eine zerknitterte Teebeuteltasche heraus und ging damit zur Küche. Sie befand sich in einem winzigen Zimmer am Ende des Flurs, das mehr einer Abstellkammer glich.
Als er nach einigen Minuten zurückkam, schaute Ronni ihn irritiert an.
„Du warst doch immer derjenige, der Sybilles Kaffee über alles liebte. Wie hast du immer gesagt? Dieser Kaffee ist nur für starke Männer . Und jetzt trinkst du grünen Tee?“
„Je älter man wird, desto einsichtiger wird man. Susanne hat mir gesagt, grüner Tee wäre gut gegen hohen Blutdruck“, antwortete Eisenstein mit der Miene eines weisen Gelehrten.
„Seit wann hast du Bluthochdruck? Das ist mir total neu.“
Ronni kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Ich habe keinen Bluthochdruck. Susanne meinte, der Tee wäre auch gut zur Vorbeugung. Inzwischen schmeckt er mir besser als diese Plürre dort drüben.“
Dabei zeigte er mit dem Arm zu dem tiefschwarzen Gebräu auf dem Aktenschrank.
„Kann ich verstehen, wenn Susanne das sagt“, lachte Ronni, stand auf und holte sich eine Tasse von Sybilles superschwarzem Kaffee.
„Komm, lass uns von etwas anderem reden. An welchem Fall arbeitest du zurzeit?“, wechselte Frank das Thema, nachdem sich Ronni wieder hinter den Schreibtisch gesetzt hatte.
Dabei richtete er seinen Oberkörper auf, denn er war in den letzten Minuten etwas in sich zusammengesunken. Sein Blick war wieder fest und neugierig – beinahe so wie früher. Womöglich war das die Folge des neuen Lebensspenders grüner Tee.
„Okay, du möchtest also wissen, an welchen schwierigen Fällen wir uns festgebissen haben, seitdem du nicht mehr da bist? Und lass mich raten, du möchtest diese Rätsel lösen? Diese Fälle, die niemand bisher gelöst hat. Dich juckt es in den Fingern, mitzumachen. Stimmt‘s?“
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