„Ich bin von diesem Scheißkerl weggerannt. Immer diese Erniedrigungen, diese Gewalt. Ich habe ihn angebettelt, angeschrien er soll mich in Ruhe lassen – ich will nicht, habe ich geschrien – immer wieder. Dann hat er mich vergewaltigt und ist danach einfach ins Wohnzimmer gegangen und hat den Fernseher eingeschaltet, als wäre nichts gewesen.“
Sie stockte. Sie hatte sich beinahe in Rage geredet. Ronni konnte fast sehen, wie ihr Herz hämmerte. Er verstärkte den Druck auf ihre Hand, die er immer noch umfasste.
„Dann klingelte es und sein Freund kam“, fuhr sie fort.
Sie hielt erneut inne. Ronni ahnte, was dann geschah.
„Du musst nicht weitersprechen. Ich kann mir vorstellen, was dann geschah“, sagte er mitfühlend.
„Nein, das kannst du dir nicht vorstellen. Du hast keine Ahnung.“
Ihre Stimme war laut, ihr Körper straffte sich und sie schaute Ronni fast wütend an. Dann sank sie wieder in sich zusammen und schaute wie vorher ihr Glas an. Ronni wartete.
„Danach haben sie mich ausgelacht und Witze über mich gemacht. Ich habe mich schnell angezogen und bin aus der Wohnung gelaufen, zu meinem Wagen. Ich bin planlos umhergefahren, bis ich in Menden an der Brücke landete. Dort bin ich ausgestiegen.“
Sie brach ab. Sie wusste, dass Ronni den Rest kannte.
Nach diesem Gefühlsausbruch schaute sie Ronni wieder an. Ihre Augen waren voller Tränen, die unbeachtet ihre Wangen hinunterliefen.
Erst jetzt bemerkte Ronni die roten Striemen am Hals und auf den Händen. Sie hatte die Jacke nicht ausgezogen. Ronni wollte sich nicht vorstellen, welche Hinweise auf Gewaltexzesse sie noch unter der Jacke auf ihrem Körper verbarg.
„Wie kann er mir so etwas antun? Wir haben uns doch einmal geliebt“, stellte sie jetzt die Frage, die sie bereits vorher sich selbst gestellt und keine Antwort gefunden hatte.
„Ich verstehe,“ sagte Ronni, obschon er nicht verstand.
Er verstand nicht, wieso eine junge Frau ihr Leben auf diese Art wegwerfen wollte. Sei der Grund auch noch so schwerwiegend, schließlich hatte man nur ein Leben. Er war der Überzeugung, dass es immer einen Ausweg gab.
„Hat er dich vorher bereits öfter geschlagen?“
„Ja, wenn er getrunken hatte. Danach hatte er sich immer entschuldigt und ich habe ihm jedes Mal wieder verziehen.“
„Wirst du ihn anzeigen?“, fragte Ronni vorsichtig.
„Nein“, antwortete sie nach einigem Zögern und fügte resigniert hinzu: „Nein, ich denke nicht. Das bringt doch nichts.“
„Ich bin der Meinung, so solltest du nicht denken. Ich finde, eine Person, die dir so etwas antut, sollte ihre Bestrafung erhalten. Ich könnte dir dabei helfen. Ich kenne Polizeibeamtinnen, die mit Frauen, denen man so eine Straftat angetan hat – und eine Straftat ist es nun einmal – einfühlsam umgehen.“
„Nein. Ich möchte das nicht“, sagte sie bestimmt und Ronni sah ein, dass er diese Entscheidung akzeptieren musste. Zumindest für den Augenblick.
„Du hast so etwas Schlimmes erlebt und ich finde, du solltest mit einem Arzt, vielleicht auch Psychologen, darüber sprechen. Oft ist es besser, wenn man Hilfe bekommt und nicht allein damit fertigwerden muss. Ich könnte dir bei der Suche eines Arztes behilflich sein.“
„Nein, danke. Das ist nicht notwendig. Ich habe meinen Papa. Wir verstehen uns sehr gut und er wird mir gerne helfen“, sagte sie entschieden und versuchte ein Lächeln, das ihr nicht überzeugend gelang.
Auch diese Entscheidung musste Ronni akzeptieren, selbst wenn er grundsätzlich anderer Meinung war.
„Wo willst du jetzt hin?“, fragte er besorgt.
Ihm war nicht ganz klar, ob der „Scheißkerl“, wie sie ihn nannte, ihr Mann oder ihr Freund war. Fall es ihr Mann war, konnte sie unmöglich nach Hause zurück.
„Nach Hause. Ich habe hier in Menden eine kleine Wohnung. Meinen Wagen habe ich unterhalb der Autobahnbrücke an der Sieg abgestellt. Von dort bin ich auf die Siegbrücke gegangen.“
„Und wo wohnt dein Freund? Ich vermute, dass er nicht dein Mann ist.“
„In Sankt Augustin. Zum Glück ist er nicht mein Mann. Und Freund? Das ist vorbei. Jetzt endgültig.“
Sie sagte das sehr entschlossen und bestimmt.
„Und wegen so einem Typ wolltest du von der Brücke springen? Sei froh, dass du es nicht getan hast.“
„Ja, jetzt bin ich das auch. Als ich auf dem Geländer stand, kamen mir schon Zweifel. Sonst wäre ich längst gesprungen, bevor du kamst. Ich war mir nicht mehr sicher und hatte keinen Mut.“
„Keinen Mut zu springen?“
„Das auch. Ich meine aber, keinen Mut nicht zu springen. Plötzlich fühlte ich so eine Sinnlosigkeit und ich habe einfach losgelassen. Zum Glück warst du da und ich danke dir dafür.“
Sie schaute ihn an und er war sicher, dass sie das ehrlich meinte.
„Keine Ursache. Versprichst du mir, künftig nicht noch einmal solch eine Idee zu haben?“
„Ich glaube, vorerst werde ich so etwas Idiotisches nicht mehr machen. Danke für den Wein. Ich will jetzt nach Hause. Ich bin todmüde“, sagte sie und lächelte.
Vielleicht lächelte sie wegen dem unbeabsichtigten Wortspiel todmüde .
Sie tranken jeder noch einen Schluck Wein. Dann stand sie auf. Auch er stand auf und umarmte sie noch einmal und sie ließ ihn allein zurück. Mit jetzt wesentlich schnellerem Schritt als auf dem Hinweg, verließ sie das Lokal.
Konnte er die Frau so einfach gehen lassen? Er überlegte, ob er ihr hinterherlaufen sollte. Aus dem Gespräch hatte er aber den Eindruck gewonnen, dass die junge Frau nicht nochmal diese selbstmörderische Aktion vorhaben würde. Sie hatte es ihm zumindest überzeugend versprochen und er glaubte ihr.
Er setzte sich wieder an den Tisch und war erleichtert, dass die Situation so gut verlaufen war. Gleichzeitig fühlte er sich aber auch ein wenig einsam, nachdem sie ihn verlassen hatte.
Wahrscheinlich würde sie genauso einsam zu Hause im Bett liegen und um Schlaf ringen, der sich wahrscheinlich nicht einstellen würde. Irgendwie hatte er ein schlechtes Gewissen.
Er trank den letzten Rest seines Weins und bat den Wirt, ihm ein Taxi zu bestellen.
Nachdem der Abend so trist begonnen und so aufregend geendet hatte, war es doch noch zu einem guten Abschluss gekommen, redete er sich ein.
Er nahm sich vor, sie nach ein paar Tagen zu fragen, wie es ihr geht. Erst jetzt registrierte er, dass er weder Nachname noch Anschrift oder Telefonnummer von ihr hatte. Auch sie hatte keine Angaben von ihm. Wie konnte er nur so dämlich sein? Er wusste nur, dass sie Sarah hieß und das war recht wenig.
Resigniert zuckte er mit den Schultern. Er konnte es nicht mehr ändern.
Außerdem war er nur noch müde und wollte ins Bett.
Ronni und Susie saßen heute zeitiger am Frühstückstisch als an anderen Tagen. Er musste ausnahmsweise an diesem Montag mit Bus und Bahn zum Polizeipräsidium fahren.
Susies Auto hatten sie gestern am späten Nachmittag in die Werkstatt gebracht. Die Inspektion stand an und die Reparatur eines inzwischen fast fünf Monate alten Blechschadens sollte endlich erledigt werden. Während des Aufenthalts in der Ostseeklinik Kühlungsborn im April war sie beim Rückwärtseinparken ungebremst gegen einen Laternenpfahl gefahren. Als sie es Ronni erzählte, hatte dieser glücklicherweise den kleinen Unfall nicht zum Thema „Frauen und Parken“ gemacht.
Für die zwei, drei Tage, an denen ihr Wagen in der Werkstatt stand, hatte er ihr seinen Wagen versprochen. Nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, hatte sie eine kleine Damenboutique in Nümbrecht eröffnet. Die Tätigkeit macht ihr großen Spaß und inzwischen konnte sie auch einen ansprechenden Erfolg verbuchen. Die Fahrt mit Bus und Bahn nach Nümbrecht würde aber nahezu zwei Stunden betragen und das wollte er ihr nicht zumuten.
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