„Nein, ich will nicht mehr zurück“, stammelte sie und wandte ihren Blick wieder dem Fluss zu.
Sie ließ die Hand, mit der sie zuletzt zusätzlich den kalten Stahl der Brücke ergriffen hatte, los. Nur mit einer Hand sicherte sie noch ihr Gleichgewicht und machte Anstalten, auch diesen unsicheren Halt loszulassen.
Anscheinend war seine Strategie nicht so erfolgreich, wie er erhofft hatte. Aber aufgeben war für ihn keine Option.
„Natürlich können Sie zurück. Was Sie davon abhält, mein Angebot anzunehmen, ist lediglich die Scham vor sich selbst, sich einzugestehen, dass Sie nachgegeben haben. Womöglich betrachten Sie es als Niederlage, einen gefassten Vorsatz zu ändern. Aber machen Sie sich keine Gedanken. Nur Sie und ich wissen von diesem Abend. Jetzt den Plan zu ändern und meine Hand zu ergreifen, ist keine Schwäche, sondern Stärke.“
Ronni, von der Frau unbemerkt, die letzten Schritte näher zu ihr vorgedrungen. Er konnte sie fast mit dem ausgestreckten Arm erreichen. Er streckte ihr seine Hand entgegen.
War es ein Geistesblitz, war es Eingebung oder war es seine Erfahrung? Er wusste, worauf man bei einem Gegner achten muss, wenn man erahnen will, wie er reagieren wird. Auf die Körperspannung! Bisher waren es immer nur Gegner, denen er gegenüberstand. Zum ersten Mal war es eine junge Frau, die sich das Leben nehmen wollte.
Als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte und ihn ansah, wusste er, spürte er, dass sie sich entschieden hatte. Dass all sein Gerede und seine Bemühungen vergeblich gewesen waren. Dass sie sich fallen lassen würde.
Mit einem Ruck drehte die Frau ihren Kopf und schaute in das trübe Wasser der Sieg und ließ ihre Hand los. Ronni sah, wie sie ihre Arme nach oben riss und fast, wie in Zeitlupe nach vorne kippte.
Nur noch ein Meter. Ein lächerlicher Meter. Ronni schien diesen letzten Meter bis zu ihr zu fliegen. Dann packte er zu. Entschlossen, erbarmungslos und mit der ganzen Kraft, die er aufbringen konnte, fasste er ihren Arm und zog sie zurück. Bevor sie auf den rettenden Asphalt des Bürgersteigs aufschlug, fing er sie auf.
Er konnte nicht umhin, sie erleichtert in die Arme zu nehmen. Sie drückte ihren Kopf an seine Schulter und blieb lange in seinen Armen hängen. Sie weinte leise und zitterte, das konnte er deutlich durch die dünne Jacke spüren.
Ronni sog die Luft tief in seine Lungen ein und stieß sie wieder kräftig aus. Auch er benötigte einige Augenblicke, um seinen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen.
„Da haben wir noch einmal Glück gehabt“, sagte er erleichtert.
Die Frau hob den Kopf und sah ihn mit tränenverschmiertem Gesicht an. War es Erleichterung, was er in ihren Augen sah?
Er wusste es nicht. Auf jeden Fall sah er keinen Zorn oder Wut darüber, dass er sie gerettet hatte.
„Nun wollen wir mal sehen, ob wir irgendwo ein warmes Plätzchen finden, wo wir uns von dem aufregenden Abend erholen können. Vielleicht können wir dort auch noch das versprochene Glas Wein trinken“, spielte er gute Laune vor, obschon er alles andere als gut gelaunt war.
Die Frau sagte nichts. Noch immer sah sie ihn an und hielt sich bei ihm mit beiden Händen fest, als würde sie befürchten, umzufallen, wenn er sie losließe. Auch Ronni hielt sie mit den Händen an den Schultern und schaute sie an.
Natürlich freute er sich, dass er die Frau davon abgehalten hatte, ihr Leben wegzuwerfen. Aber deshalb gute Laune? Nein, auch er war geschockt und musste zuerst einmal verarbeiten, was er erlebt hatte.
„Danke“, hauchte sie leise, fast unhörbar.
Dann löste sie sich von Ronni und trat einen Schritt zurück.
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich nach Hause gehe“, sagte sie.
Ihre Stimme zitterte noch ein wenig, aber sie schien sich langsam zu erholen.
„Nein, ich lasse Sie jetzt auf keinen Fall allein nach Hause gehen. Wir werden uns einen Ort suchen, wo wir uns unterhalten können. Wir sollten das, was wir soeben erlebt haben, versuchen zu verarbeiten. Und das geht nur, wenn wir darüber sprechen. Irgendwo wird es hier eine ruhige Ecke in einem Lokal geben.“
„Ich habe leider kein Geld dabei. Ich denke, es ist besser, dass ich doch nach Hause gehe“, antwortete sie kleinlaut.
„Das kann ich verstehen. Wenn man von der Brücke springen will, nimmt man sicherlich keine Geldbörse mit. Ich habe heute meinen großzügigen Tag. Ich denke, der Wein geht auf meine Kosten“, antwortete Ronni locker.
Ohne Absprache mit der Frau schlug er den Weg über die Brücke nach Menden ein. Sie hakte sich wie selbstverständlich bei ihm ein und trottete recht langsam neben ihm her. Wahrscheinlich hatte die Aktion – und wer weiß wie lange sie bereits gedauert hatte, bevor er die Frau erblickte – sie-nicht nur mental, sondern auch körperlich eine Menge Kraft gekostet.
„Wenn ich diesen Ort so sehe, kann ich nicht versprechen, ob wir ein Lokal finden, welches um diese Zeit noch geöffnet hat“, gab er zu bedenken, als sie die ersten Häuser vom Ortsteil Menden auf der anderen Flussseite erreichten.
Sie gab keine Antwort, sodass er davon ausging, dass auch sie nicht ortskundig war. Nach vielleicht einhundert Metern sah er die Leuchtreklame eines Restaurants. Sie gingen hinein.
„Wir schließen in einer guten halben Stunde“, sagte der Wirt, als sie das Lokal betraten.
Er stand hinter der Theke und musterte die junge Frau mit einem kritischen Blick. Wahrscheinlich hatte er so viel Menschenkenntnis, dass er spürte, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Vielleicht waren es auch nur die zerzausten Haare und das noch immer blasse Gesicht.
„Ist in Ordnung. Wir wollen uns nur kurz aufwärmen und einen Wein trinken“, sagte Ronni und zog die Frau am Arm mit hinein.
Das Lokal war so gut wie leer und sofort umgab sie eine angenehme Wärme. Sie setzten sich in eine Ecke und Ronni bestellte zwei Rotwein.
„Ich hoffe, Sie trinken einen Rotwein?“, fragte er.
Sie nickte nur mit dem Kopf, schaute ihn nicht an, sondern starrte auf die Tischplatte vor sich.
Irgendwie muss ich es doch schaffen, ein Gespräch mit ihr zu führen, dachte er. Doch das schien nicht so einfach. Nachdem der Wirt die beiden Gläser vor ihnen auf den Tisch gestellt hatte, hob er sein Glas, schaute sie an und sagte: „Ich heiße übrigens Ronni. Ich finde, nach dem, was wir in der letzten Stunde gemeinsam erlebt haben, könnten wir du zueinander sagen. Findest du das nicht auch?“
„Mein Name ist Sarah“, sagte sie leise und hob vorsichtig das Weinglas, trank einen kleinen Schluck, schaute ihn aber nicht an.
So vorsichtig, wie sie das Glas angehoben hatte, stellte sie es auch wieder auf den Tisch. Das wird ja eine lustige Unterhaltung, dachte er. Sie saßen eine Weile schweigend zusammen. Vielleicht eine halbe Minute, vielleicht auch eine volle Minute. Jeder schaute vor sich auf sein Glas Wein.
„Wann haben Sie … wann hast du dich dazu entschlossen?“, fragte er.
„Wozu?“
„Von der Brücke zu springen. War das ein spontaner Entschluss oder hast du das bereits länger geplant?“
„Das war ganz spontan. Ich wollte einfach nicht mehr. Ich war fertig“, sagte sie und Ronni bemerkte, wie sie mit ihren Tränen kämpfte.
Sie klang erschöpft. Ronni hatte den Eindruck, dass sie etwas Schlimmes erlebt hatte. Er wollte sie dazu bringen zu reden. In vielen Fällen hilft es, wenn man sein Erlebtes jemandem erzählen kann. Er wollte dieser Jemand sein und zuhören.
„Was ist geschehen? Möchtest du darüber reden?“, fragte er und legte seine Hand zu ihrer Beruhigung auf ihre. Zum ersten Mal schaute sie ihn an und er blickte in wunderschöne, braune, aber verängstigte Augen. Ihre Augenlider zuckten. Ein Zeichen für Stress und Anspannung. Dann schaute sie wieder auf ihr Weinglas, atmete hörbar ein und begann:
Читать дальше