Trotzdem wollte er seine kleine Wohnung in Bonn nicht aufgeben. Man weiß ja nie …, war so ein Gedanke in der hintersten Ecke seines Gehirns. Dafür hatte er in seinem Leben auch schon zu viel Negatives erfahren, als dass er alle Eventualitäten einfach zur Seite wischen konnte. In der Zeit, in der Susie sich in der Reha-Maßnahme befand, lebte er wieder in seiner kleinen Wohnung. Die Wohnung in Seligenthal war ihm einfach zu groß und dort würde er sich ohne seine Freundin noch einsamer fühlen.
Ohne besonderen Plan war Ronni mit dem Zug nach Troisdorf gefahren. Durch seine Ermittlungsarbeit in verschiedenen Fällen kannte er Troisdorf. Er mochte die Überschaubarkeit der Kleinstadt an manchen Tagen mehr als die Hektik in Bonn oder Köln. An diesem Abend war er lustlos durch die menschenverlassene Fußgängerzone geschlendert.
Jetzt saß er seit fast zwei Stunden an der Theke in einer der vielen Troisdorfer Bars und Kneipen. Schaute lustlos dem jungen Mann hinter der Theke bei dessen Tätigkeiten zu. Um ihn herum nur lachende, gut gelaunte Menschen. Manchmal drang ein frivoles Lachen einer Frau an sein Ohr, manchmal vernahm er irgendwelche Sprachfetzen und hin und wieder auch den Teil einer belanglosen Unterhaltung.
Der allgemeine, hohe Geräuschpegel im Lokal überlagerte grundsätzlich alles. Er machte sich jedoch auch nicht die Mühe, genauer hinzuhören, um etwas zu verstehen oder sogar zu analysieren. Er hatte einfach kein Interesse. Ein halbvolles Glas Bier stand vor ihm, inzwischen sein viertes. Er wusste, er trank zu schnell und er passte hier eigentlich nicht hin – zumindest nicht in seiner jetzigen Stimmung. Aber welche Alternative hatte er, wenn er nicht allein zu Hause vor dem Fernseher sitzen wollte und darauf warten, dass er irgendwann aus Langeweile oder Frustration einschlafen würde?
Als er noch beim ersten Bier war, setzte sich eine junge Frau auf den noch freien Barhocker neben ihm. Wallendes, blondes Haar, top Figur, die sie gekonnt zur Geltung brachte. Bereits nach wenigen Minuten sprach sie ihn an und sie kamen ins Gespräch. Belangloses, ob er öfter hier wäre? Er verneinte. Es wäre ihre Stammkneipe, ob er auch eine Stammkneipe hätte. Er verneinte erneut und konterte damit, dass es für April auch abends noch sehr warm sei. Wahnsinn!
Trotz des inhaltslosen Gesprächs fühlte er sich geschmeichelt, schließlich schien sie wesentlich jünger als er zu sein. Gehöre ich doch noch nicht zum alten Eisen? Habe ich bei jüngeren Frauen vielleicht doch noch eine Chance? Jetzt, beim vierten Bier, hätte er sich womöglich anders verhalten und wäre einem kleinen Flirt an der Theke nicht abgeneigt gewesen. Doch zu Beginn des Abends hatte er noch einen klaren Kopf und war vernünftig. Hatte er doch Susie, mit der er richtig glücklich war. Außerdem strengte ihn das nichtssagende Gespräch mit der jungen Frau zu sehr an. Mit jedem Satz, jeder Frage, schwand sein Interesse an der blonden Schönheit immer mehr. Beim zweiten Bier raffte er sich dazu auf, ihr freundlich, aber bestimmt klarzumachen, dass er allein sein wollte und sie ihren Charme nicht unnütz an ihn verschwenden sollte. Leicht pikiert suchte sich die junge Frau daraufhin ein zugänglicheres Opfer im inzwischen voll besetzten Lokal.
Danach genehmigte er sich zum Bier zusätzlich einen klaren Schnaps, sozusagen als Trost oder zur Bestätigung seines Alleinseins. Er wusste nicht genau, welcher Grund ausschlaggebend war, wahrscheinlich waren es beide Gründe.
Seitdem grübelte er darüber, weswegen er überhaupt die Bar aufgesucht hatte, wenn er doch grundsätzlich allein und für seine Mitmenschen unzugänglich sein wollte. Allein sein konnte er genauso gut zu Hause. Bier hatte er mit Sicherheit noch in ausreichender Menge im Kühlschrank.
Im Spiegel an der Wand ihm gegenüber sah er, dass die junge Frau inzwischen jemand anderes gefunden hatte, der ihren Charme bereitwillig konsumierte. Der Mann, schätzungsweise noch älter als Ronni selbst, hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt und beide kicherten um die Wette. So ist es nun einmal im Leben: Jeder Topf findet seinen Deckel, dachte er.
Als sie mit ihrem Auserwählten Arm in Arm das Lokal verließ, gestand er sich ein, dass es vergeudete Zeit für ihn war, weiterhin an der Theke zu sitzen und sich volllaufen zu lassen. Er trank sein Bier aus, bezahlte und verließ ebenfalls das Lokal.
Draußen standen die besagte, junge Frau und ihre Eroberung eng umschlungen in einer Hausecke und küssten sich.
Das hätte ich sein können, dachte Ronni nicht ganz ohne einen Funken Neid. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihre Eroberung sicherlich am nächsten Morgen wieder allein sein würde. Er schätzte die junge Frau so ein, dass sie jemand gesucht hatte, der ihre Zeche zahlte und ihr für diese Nacht das Bett wärmte. Nein, das war schon gut so, wie es war. In zwei Wochen würde Susie wieder zurück aus der Reha sein und er brauchte keine Abenteuer. Lediglich das Alleinsein setzte ihm stark zu, was wiederum ein gutes Zeichen war, da ihm dadurch klar wurde, wie sehr er Susie vermisste.
Langsam schlenderte er auf dem Bürgersteig entlang der Siebengebirgsallee Richtung Sieg.
Inzwischen hatte er die letzten Häuser passiert und die Straße, die in einem Bogen um die Mannstaedt-Werke herumführte, war nur spärlich ausgeleuchtet. Dieses verdammte LED-Licht. Wer mag der Urheber dieser Idee gewesen sein und was mag die Umstellung aller Straßenlaternen auf dieses Schummerlicht die Stadt gekostet haben, regte er sich innerlich auf. Anschließend schlug der Ärger gegen sich selbst um, da er sich über solche Nichtigkeiten aufregte, die er eh nicht ändern konnte. Vielleicht war es doch im Nachhinein dumm von ihm gewesen, die Chance einer wunderbaren Nacht mit dieser Schönheit aus der Kneipe vertan zu haben und sein Ärger hatte darin seinen Ursprung.
Nur selten begegnete ihm ein Auto, das einen Moment lang für etwas mehr Licht sorgte. Auch wenn die Temperaturen tagsüber manchmal die Nähe von zwanzig Grad erreichten, sanken sie, sobald die Sonne untergegangen war, erheblich ab und am frühen Morgen zeigte das Thermometer öfter unter zehn Grad an. Er hatte den Reißverschluss seiner Windjacke bis zum Hals hochgezogen und die Hände tief in die Taschen vergraben. Auch wenn er es nicht direkt vor sich selbst zugeben wollte, hätte er jetzt lieber auf den Spaziergang verzichtet. Aber ich bin doch kein Weichei, dachte er, um sich ein wenig aufzumuntern.
In einiger Entfernung konnte er die Umrisse der Mendener Brücke sehen, die sich über die Sieg spannte und den Troisdorfer Stadtteil Friedrich-Wilhelms-Hütte mit dem Sankt Augustiner Stadtteil Menden verband.
Sein Plan sah vor, der Straße in Richtung Friedrich-Wilhelms-Hütte zu folgen und dort am kleinen Bahnhof auf den nächsten Zug nach Bonn zu warten. Vielleicht würde er auch ein Taxi rufen, falls die Wartezeit zu lange dauern sollte.
Als er sich auf Höhe der Brücke befand, stutzte er und strengte seine Augen an. Stand dort nicht in der Mitte der Brücke eine Gestalt auf dem Brückengeländer? Nein, Unsinn, das ist nicht möglich, dachte er.
Er zählte im Geiste noch einmal nach. Er hatte vier Bier und einen klaren Schnaps getrunken. So vernebelt konnte seine Wahrnehmung doch nicht sein. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, aber die erste Erkenntnis änderte sich nicht. Dort stand zweifelsohne eine Person auf dem Brückengeländer, die anscheinend im Begriff war, zu springen. Wenn er sich nicht völlig täuschte, war es eine weibliche Person.
Mit einem Mal war Ronni klar, was hier vor sich ging. Mit Sicherheit wollte sich eine Frau vom Brückengeländer in den Fluss stürzen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und erneut bahnte sich der Ärger in ihm seinen Weg in sein Gehirn. Wäre ich bloß nicht diesen Weg gegangen. Hätte ich mich doch auf die Frau im Lokal eingelassen, läge ich jetzt im warmen Bett und könnte die Nacht genießen, dachte er. Stattdessen stand er in der Dunkelheit an dieser Brücke und war gezwungen, einer Selbstmörderin bei der Ausführung ihres Plans zuzusehen. Wenn er noch einige Biere mehr getrunken hätte, würde er jetzt dem Ärger die Oberhand überlassen und einfach umkehren. Hätte, hätte, hätte – so war es aber nicht. Er stand hier und sah die Frau auf der Brücke. Er musste sich entscheiden, ob er weitergehen oder der Frau helfen sollte.
Читать дальше