„Hiiiilfe“, formten seine Lippen, aber nur ein undefinierbares Krächzen kam aus seinem Mund, das nur taube Ohren erreichte.
Erneut legte er den Kopf in den Nacken und schaute nach oben zur Felskante. Was er dort sah, grub sich tief in seine Gehirnwindungen ein, ließ sein Blut gefrieren und sein Herz brechen.
Er hörte nicht das Knacken, als die Knochen seiner Finger brachen. Er spürte lediglich den fürchterlichen Schmerz in seiner Hand und in seiner Seele, als er begriff.
Das Gewicht seines Körpers zog ihn gnadenlos in den Abgrund, während sich gleichzeitig seine Hand von dem Fels löste. Er hatte keine Kraft mehr, sich dem Unausweichlichen zu widersetzen. Weiter, immer weiter stürzte er in die Tiefe, in das schroffe, unwegsame Gelände.
Ein nicht enden wollender Schrei verließ seine Lippen und das Poltern des Gesteins begleitete ihn hinab bis zum Ende – zu seinem Ende.
Gestern Abend, ich war gerade zu Bett gegangen und konnte nicht einschlafen, da nahm ich mir vor, heute meine erste Wanderung durch die Wahner Heide zu unternehmen.
Ich öffne die Augen. Im Schlafzimmer ist es fast noch so dunkel wie in der Nacht. Mein Wecker auf dem antiquierten Nachttisch zeigt Montag, 24. Oktober 8:15 Uhr an. Ich habe gestern Abend die Weckfunktion nicht aktiviert, da ich endlich einmal ausschlafen wollte. Vielleicht habe ich auch die Uhrzeit nicht korrekt eingestellt und es ist noch wesentlich früher, und deshalb noch so dunkel. Oder liegt es an den dicken, bunten Vorhängen, die so gut wie kein Licht durchlassen?
Ich erhebe mich von der viel zu weichen Matratze. Das Bett quietscht fürchterlich. Einen Augenblick bleibe ich auf der Bettkante sitzen und resümiere, dass ich trotz der nicht optimalen Verhältnisse gut geschlafen habe. Ich stehe auf, gehe zum Fenster und ziehe die Vorhänge zur Seite. Was ich sehe, lässt mich meinen Entschluss bereuen. Die natürliche Tristesse eines rheinischen Herbsttages schaut mich an. Leichter Nebel, feucht und grau, wohin ich auch blicke. Als ich mich entschlossen habe, heute wandern zu gehen, konnte ich nicht ahnen, welches Schmuddelwetter mich heute Morgen erwarten würde.
Jetzt nehme ich auch die Kälte wahr, die im Schlafzimmer herrscht. Soll ich mich nochmals unter die Bettdecke verkriechen? Eine verlockende Versuchung. An solch einem Tag würde mir bestimmt nichts entgehen und Termine habe ich ohnehin nicht. Nein, ich entscheide mich dagegen. Stattdessen knipse ich das Licht an, lege mir eine Decke um die Schultern und gehe ins Wohnzimmer.
Auch hier mache ich zuerst einmal Licht und ziehe die Vorhänge zurück. Die gleiche graue Suppe wie vor dem Schlafzimmerfenster. Zum Glück habe ich gestern Abend nicht das Heizungsthermostat zurückgedreht. Daher ist es im Zimmer angenehm warm und gemütlich.
Na ja, Gemütlichkeit sieht in der Regel anders aus. Auf dem Tisch und in einigen freien Ecken stehen noch Umzugskartons, die ich gestern nicht geschafft habe auszupacken.
Was soll‘s, denke ich. Das hat Zeit bis später. Es ist warm und wenn ich geduscht, mir einen Kaffee aufgebrüht und ein Brötchen aufgebacken habe, beginnt der Tag doch recht positiv.
Auf meine erste Wanderung will ich auf keinen Fall verzichten – ich muss einfach raus. Nachdenken, was geschehen ist abhaken und einfach den Kopf frei bekommen.
Nach dem Frühstück ziehe ich mich warm und regenfest an und verlasse mein neues Zuhause.
Beim Verriegeln der Haustür fällt mein Blick auf das Namensschild an der Klingel: „Isabelle Kern“.
Der Vermieter hatte das bereits vor Tagen veranlasst. Glücklich bin ich nicht darüber, aber ich werde demnächst sowieso wieder meinen Mädchennamen annehmen. Dann wird auch der Name „Kern“ nur noch „Schall und Rauch“ sein. Gott sei Dank.
Nachdem ich den Ort hinter mir gelassen habe, orientiere ich mich an der Straße nach Troisdorf. Am Waldrand führt ein Weg parallel zur Straße. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich diesem Weg gefolgt bin. Irgendwann biege ich links ab in den Wald hinein. Mehrmals biege ich rechts und dann links in einen anderen Weg ein. Ich habe kein konkretes Ziel, nicht einmal eine geplante Richtung und eine Wanderkarte habe ich auch nicht dabei.
Im Laufe des Vormittags gesellt sich zu dem eintönigen Grau leichter Regen hinzu. Die Sicht wird dadurch noch schlechter. Aber ich habe nicht vor, mir den Wald und die Landschaft anzusehen – heute nicht. Ich will meine Sorgen und Gedanken im Kopf ordnen. Will meinen Kopf regelrecht ausmisten.
Ich ziehe meine Kapuze über und stopfe die Hände tief in die Taschen meiner Regenjacke.
Zu viele Gedanken schwirren unkontrolliert durch meinen Kopf, und je mehr ich nachdenke, desto verwirrender werden sie. Das hat zumindest den Vorteil, dass ich abgelenkt bin und den Regen und die Kälte nicht so spüre.
Immer wieder frage ich mich, wieso ich monatelang nichts bemerkt hatte. Macht Liebe wirklich blind?
Seltsamerweise spüre ich jetzt noch immer das Gefühl, das Gefühl der Geborgenheit. Keine Frage, ich habe Ronni geliebt.
Über vier Jahre lebten wir zusammen – glücklich zusammen. Damals in Duisburg hatten wir uns kennengelernt. Als ich dann in Bonn die Stelle in der Anwaltskanzlei antrat, hatten wir Zweifel, ob unsere Liebe diese Wochenendbeziehung überstehen würde. Ronni besuchte mich jedes Wochenende in meiner Wohnung in der Pension in Poppelsdorf. Ich weiß es noch so genau. Manchmal, wenn die Sehnsucht zu großwurde, kam er sogar für ein paar Stunden abends in der Woche nach Bonn. Diese wenigen Stunden waren meistens schöner und intensiver als ein ganzes Wochenende. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis Ronnis Versetzungsantrag nach Bonn stattgegeben wurde. Zu diesem Glück gesellte sich noch der Zufall, dass er wieder mit Frank Eisenstein zusammen arbeiten konnte, der bereits in Duisburg fünf Jahre sein Chef war.
Wie war ich doch selig, als er Weihnachten vergangenen Jahres endlich um meine Hand anhielt. Die standesamtliche Trauung fand im kleinen Kreis statt. Meine Eltern und meine jüngere Schwester, die Trauzeugin war, waren aus Spanien gekommen. Ronnis Eltern waren selbstverständlich auch da. Da er keine Geschwister hat, hatte er Frank Eisenstein gefragt, ob er Trauzeuge werden möchte. Natürlich sagte Frank gerne zu und ich freute mich ebenfalls. Schließlich kenne auch ich Frank seit Jahren und die beiden Männer sind gute Freunde, die die meiste Zeit des Tages beruflich miteinander verbringen und viel zusammen erlebt haben.
Im Juni feierten wir eine wunderschöne Hochzeit. Die Trauung in der kleinen Kirche, mein weißes, tief ausgeschnittenes Brautkleid und mein Mann im dunkelbraunen Anzug mit Fliege. Er sah so toll aus – mein Mann. Wie war ich doch stolz, erinnere ich mich etwas wehmütig.
Es wurde ein riesiges Fest. Alle Verwandten aus meiner Heimat waren angereist. Viele Freunde von mir und von Ronni. Ich erinnere mich noch genau: Sogar Frank hatte mit mir getanzt – und sogar gut getanzt. Das hätte ich dem etwas linkisch wirkenden Hauptkommissar gar nicht zugetraut. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob er nicht vorher, extra für die Hochzeit einen Tanzkurs besucht hat.
Doch das ist jetzt alles überholt und Vergangenheit. Ich muss nach vorne schauen. Nur das Jetzt und die Zukunft zählen!
Als ich mit der Zunge über meine Oberlippe fahre, spüre ich einen salzigen Geschmack. Sind das Reste von Tränen? Habe ich geweint und es im Regen nicht einmal bemerkt?
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