„Mensch, kannste das mal lassen?“, bat Claudia.
„Was denn?“, fragte Born zurück, während er eifrig weiter schabte.
„Hör bitte mal auf zu kratzen. Ich frier´ gottserbärmlich, wenn ich das höre.“
„Och Mensch, das juckt halt so.“
„Da gibt´s ´ne Lösung“, schaltete sich der ‚Freak’ lachend ein, „manchmal hilft waschen.“
„Werd´s mal probieren. Also los jetzt, was will dieser Vogel?“
„Ich habe keine Ahnung. Aber wahrscheinlich hast Du recht. Da hat einer einen anderen in einen Kofferraum gesteckt – aus welchem Grund auch immer. Und jetzt geht ihm die Muffe“, dozierte Sven Lukas.
„Ja, aber warum lässt er ihn nicht einfach wieder raus?“, wollte die Kollegin wissen.
Born überlegte. „Vielleicht, weil das ein fremdes Auto war, das jetzt weg ist und an das er deshalb nicht mehr rankommt. Ach nee, geht ja nicht. Dann wüsste er ja nicht, wo´s steht.“
Claudia nickte. „Ich glaub´ eher, der Anrufer kann nicht mehr an den Wagen ran, weil er weiter weg ist. Oder weil ihm irgendwas den Weg versperrt.“
„Ja, natürlich“, sprang Pattrick auf, „vielleicht ein Baum, oder ein ganzer Wald. Draußen liegen zurzeit jede Menge Wälder rum. Wo sollen wir zuerst suchen?“
Der Sarkasmus in seiner Stimme war unüberhörbar. Es glich einer Art vorzeitiger Kapitulation. Und im Grunde genommen hatte er recht. ‚In einem Wald bei Grünewald’. Wer hätte denn mit dem Finger auf den Gemarkungsplan zeigen und sagen können: „Hier ist es!?“ Wo denn da? Dort gab´s nur Wald.
Ratlos schauten sich die drei nacheinander an. Dann wollte Born wissen: „Den Mann im Kofferraum suchen oder den Anrufer? Was ist leichter?“
„Vielleicht den Anrufer“, rief der Freak, „hört mal her. Kann uns unter Umständen weiterhelfen. Aber ihr müsst genau aufpassen.“ Dann startete er eine weitere Toneinspielung. Das Knarzen war nun deutlicher zu hören und undefinierbare Geräusche im Hintergrund.
„Noch mal von vorne bitte. Und lauter“, bat Claudia. Wieder hörten die drei gebannt zu. Und noch mal und noch mal. Dann sagte die Kollegin: „Also, der Anrufer hat auf jeden Fall ein unrasiertes Kinn, vielleicht sogar einen Dreitagebart. Der scheuerte nämlich am Telefon.“
„Wow, ich glaub´, da liegst Du gar nicht so falsch.“ Born nickte anerkennend.
„Und er hat hier aus der Stadt angerufen. Denn wenn man genau aufpasst, hört man im Hintergrund ganz dünne die Uhr vom Schlossturm schlagen. Das Dröhnen ist …“
„Das ist der Sturm, der da gerade so tobt“, legte sich Pattrick fest.
„Glaub´ ich nicht“, war sich Sven ziemlich sicher.
„Ich auch nicht“, meinte auch Claudia. „Ich glaube vielmehr, dass es eine einlaufende Bahn war. Das hört sich hinter verschlossenen Fenstern echt seltsam an.“
„Bingo! Das könnte hinhauen. Du bist ja gut!“ Sven Lukas rief den Berleburger Stadtplan im Internet auf und fuhr mit dem Cursor die Straßen entlang. „Die Position des Anrufers muss auf alle Fälle grob östlich vom Schloss gelegen haben. Und das entweder direkt an der Bahn oder zumindest in Schlagdistanz des Bahnhofs. Sonst hätte man bei dem Sturm, der von Westen kam, weder das Turmglöckchen hören können, noch das Geräusch der Bahn. Das muss mehr über den Boden übertragen worden sein, als durch die Luft.“
„Ihr macht mich fertig“, grinste Pattrick Born. „Dann zeig mal, Sven. Von wo kann der Anruf denn gekommen sein?“
Der ‚Freak‘ fuhr mit dem Mauszeiger auf der Karte ein wenig hin und her. Dann gab er seinen Tipp ab: „Also entweder von oben aus dem Bahnhof. Da gibt es doch Büros, soweit ich weiß. Oder aber von gegenüber aus der Moltkestraße. Und zwar ziemlich in Höhe des Bahnhofs. Das würde nämlich das abrupte Enden dieses Dröhnens erklären.“
Klang logisch. Das mussten die beiden anderen Kollegen zugeben. Mal sehen, was Klaus Klaiser dazu sagen würde. Der hatte eigentlich kurzfristig freigenommen. Weil er seine kleine Familie bei dem Sturm nicht allein lassen wollte. Aber jetzt müssten sie ihn wenigstens telefonisch mit ihren Erkenntnissen konfrontieren.
Bernd Dickel hatte alles mobil gemacht was möglich war. Auch eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei Dortmund. Doch sowohl die, als auch alle anderen Beamten aus dem Stadt- und Kreisgebiet waren zunächst einmal zum Nichtstun verdammt. ‚Friederike‘ rasierte die Landschaft nach wie vor mit einer Gnadenlosigkeit, die kaum zu beschreiben war.
Als sich die Dortmunder gegen Nachmittag schließlich Richtung Wittgenstein in Bewegung gesetzt hatten, mussten sie bereits an der Anschlussstelle Lüdenscheid-Nord die Sauerlandlinie wieder verlassen. Auf der Talbrücke Schlittenbach war ein Lastzug umgekippt und hatte die Autobahn blockiert.
An ein Weiterkommen war nicht zu denken. Erst recht nicht ‚über Land‘. Denn auch dort herrschte Chaos pur. So entschied der Hundertschaftsführer den geordneten ‚Rückmarsch‘ der zwölf Mannschaftstransporter in die einstige Bierhauptstadt Europas.
Um 20.33 Uhr hatten sie die Unterkünfte in Eving erreicht. Sechseinhalb Stunden für nicht mal 80 Kilometer Fahrt hin und zurück waren draufgegangen bei dem Versuch, Bad Berleburg zu erreichen.
Man werde es tags darauf wieder versuchen, ließ die Einsatzzentrale Berleburgs Revierleiter wissen. Und der hatte ein Einsehen. Es war den ganzen Tag über einfach viel zu gefährlich für einen Sucheinsatz wer weiß wo. Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit geht auch für die Beamten vor.
Leon Körner hatte bereits lange vorher sein Gefühl in den Händen verloren. Und auch die Füße fühlten sich eher wie Schwämme am unteren Ende der Beine an. Je mehr deren Besitzer sich mühte, aus der Fesselung herauszukommen, umso mehr schwollen die Extremitäten an. Weil der Blutfluss nicht ausreichend garantiert war.
Wer weiß, wofür das gut war. Womöglich hätte der Ingenieur ansonsten die fast unerträgliche Kälte unter Finger- und Fußnägeln zu spüren bekommen. Und er hätte nichts dagegen unternehmen können.
Hunger bohrte in seinem Magen. Und Durst. Aber noch viel schlimmer war der Pegelstand seiner Blase. Leon hatte das Gefühl, kurz vor´m Platzen zu stehen.
Wieder donnerte und tobte es draußen. Und das Schaben auf dem Kofferraumdeckel nahm bedrohliche Formen an.
Plötzlich mischte sich in dieses Horrorkonzert auch noch ein Ächzen und Stöhnen, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es hörte sich an, als öffne sich ein Burgtor, dass schon seit Jahrzehnten keinen Millimeter mehr bewegt worden war. Und dann knallte etwas mit ohrenbetäubendem Lärm auf den Kofferraum, der augenblicklich gut die Hälfte seines Volumens verlor.
Ein aberwitziger Schmerz schoss durch Körners Becken. Auch Brustkorb und Schulter hatte es ganz offensichtlich erwischt, als ein umgeknickter Baum auf das Auto geknallt war. Das Atmen war ihm nahezu unmöglich geworden. Leon japste nur noch. ‚So sieht also jetzt das Ende aus‘, dachte er noch und fühlte sich eigenartig leicht. Dann hüllte ihn eine tiefe Bewusstlosigkeit gnädig ein.
Im Krankenhaus schoss Ronja erschreckt von ihrem Bett hoch. Ihr Kopf dröhnte. Aber sie sah und hörte nichts im Krankenzimmer. Draußen war es bereits dunkel. Nach den ersten Untersuchungen hatte sie in einen leichten Dämmerschlaf gefunden und war durch einen Schrei ihres Mannes geweckt worden. „Leon“, schrie sie auf. „Wo bist Du?“
„Um Himmels Willen, Ronja“, rief Schwester Rebekka, als sie zur Tür hereingestürzt kam. „Was ist denn los?“
„Ich habe Leon schreien hören. Er hat Schmerzen. Das fühle ich.“
Rebekka fühlte nach der Stirn der Kollegin. „Fieber hast Du nicht. Hast Du schlecht geträumt?“
„Nein“, Ronja Körner hielt sich den Kopf. „Ich habe gar nichts geträumt. Nur Leons Schrei habe ich gehört. Mensch, tut doch was! Leon ist in großer Gefahr. Und ich kann ihm nicht helfen.“
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