„Wo ist wer?“, fragte der die ihm unbekannte Frau auf der Türschwelle.
„Na, Ronja. Ronja Körner. Was ist mit ihr?“
„Wer sind Sie denn?“, wollte Holger wissen.
„Mein Name ist Mina Nölke, Ronjas beste Freundin. Ich bin diejenige, die heute Morgen die Feuerwehr hergeschickt hat. Weil ich bei einem Telefonat mit ihr so einen unglaublichen Knall und dann gar nichts mehr gehört habe.“
„Ach so, t´schuldigung. Konnte ich ja nicht wissen. Kommen Sie rein. Ronja hat sich oben einen Moment hingelegt. Der Arzt ist gerade bei ihr.“
„Ist es schlimm?“
„Nein, ich glaube nicht. Sie hat nur eine Mordsbeule am Kopf und war für einen Moment weggetreten. Vielleicht ´ne Gehirnerschütterung. Maximal.“
„Aha. Und was machen Sie hier?“
„Och, wir versuchen, das Haus wieder in einen halbwegs bewohnbaren Zustand zu bringen, nachdem sich Friederike hier drin ausgetobt hat. Der Orkan hat Ronja vom Balkon zurück ins Haus geworfen und anschließend hier drin so richtig die Sau rausgelassen.“
Mina schob Holger Saßmannshausen zur Seite und steuerte auf den Wohnbereich zu. Aber sehr weit kam sie nicht. Weil dort gerade alle Stühle des Esszimmers ‚geparkt‘ und tausend zerbrochene große und kleine Dinge auf dem Boden herumlagen. Trotzdem bekam sie auch von dort einen ausreichenden Blick auf die Unordnung und die Zerstörung. Und auf die Nachbarn, die sich redlich um Ordnung und Reparatur bemühten.
„Ach Du lieber Herrgott!“, entfuhr es ihr. Unweigerlich führte sie eine Hand vor den Mund. Als wolle sie sich selbst am Sprechen hindern. „Das ist ja Wahnsinn.“ Dann drehte sie sich zu Holger um und fragte: „Wo ist denn eigentlich Leon?“
„Wir wissen es nicht. Ronja konnte ihn telefonisch nicht erreichen. Und er hat sich noch nicht gemeldet. Er wollte wohl nach Potsdam, ist dort aber nicht angekommen.“
„Und in der Firma?“
„Dort weiß man auch nichts. Nur, dass er gestern schon überraschend früh losgefahren ist. Ronja macht sich unheimliche Sorgen.“
„Mit Recht. Ich gehe jetzt mal rauf zu ihr.“
„Ich weiß nicht, ob das dem Arzt so recht ist“, versuchte der wuchtige Nachbar, die Besucherin zurückzuhalten. Aber die meinte nur: „Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ich bin auch von der Gilde“ und flutschte an Holger vorbei die Treppe hinauf.
Auf Zehenspitzen ging sie oben über den kleinen Flur, in dem vor der Badezimmertür ein Haufen Handtücher und Toilettenartikel wild auf dem Boden verstreut waren. Mina schaute kurz ins Bad und bekam sofort einen heftigen Luftzug ab. ‚Kein Wunder’, dachte sie. Drinnen stand das große Badezimmerfenster sperrangelweit offen. Draußen spielte der Orkan Mikado mit der in Fetzen gerissenen Jalousie. Und der offene Fensterflügel hatte sich an einem Rattan-Regal verkeilt, das windschief in der Raumecke hing. Auf dem Kachelboden hätte man bequem Wasserburg spielen können. Doch der zentrale Bodenabfluss tat sein Bestes.
‚Hat die Süße nach dem Duschen mal wieder gelüftet und alle Türen offengelassen.’ Mina war diese Marotte von Ronja schon im Schwesternwohnheim auf den Senkel gegangen. ‚Durchzug, um die Feuchtigkeit herauszubekommen’, hatte die Freundin doziert und sich in diesen Akt nie reinreden lassen.
Schnell schloss sie das Fenster. Wobei ihr der Luftzug von hinten fast den Flügel aus der Hand gerissen hätte. ‚Kamel’, schalt sie sich selbst‚ ‚hättest ja selbst auch mal die Tür zu machen können.’ Unablässig orgelte der Sturm und fügte der Natur tödliche Wunden zu.
Die Krämpfe in Leons Beinen meldeten sich wieder. ‚Keine Chance dagegen anzugehen‘, sagte er sich. ‚Wenn die schlimmer werden, drehst du hier völlig durch.‘ Deshalb verhielt er sich still. Versuchte nicht einmal mehr, den Oberkörper weiter zu krümmen, um den Beinen mehr Platz zu geben. Er lag nur ruhig auf der Seite, als sei er zusammengepackt. Wie eine umgekippte Mumie in einem Hockergrab.
Sein Glück waren seine sportliche Fitness und seine Fähigkeit zur progressiven Muskelentspannung. So lösten sich die Knoten in den Oberschenkeln nach wenigen Minuten wieder. Aber als er seine Beine wenigstens ein wenig ausschütteln wollte, merkte er, dass auch seine Füße zusammengebunden waren. „So eine Scheiße!“, brüllte er laut, aber mit bibbernder Stimme.
Es war wirklich lausig kalt in dem Kofferraum. Und, das war Leons ganz große Sorge, die Ressourcen an Sauerstoff müssten bald erschöpft sein. ‚Obwohl‘, überlegte er, ‚du hast ja nicht die geringste Ahnung, wie lange du hier schon eingesperrt bist. Vermutlich seit Stunden. Und trotzdem lebst und atmest du noch halbwegs saubere Luft. Das muss doch einen Grund haben.‘
Hatte es auch. Aber den konnte der Ingenieur weder erahnen noch sehen. Denn er lag mit dem Rücken zur Rücksitzlehne, die unablässig sauberste Luft durchließ, weil sie um einen minimalen Spalt nach vorn geklappt war. Licht sickerte allerdings nicht durch. ‚Du hast hier nur eine Chance, wenn dich einer findet. Oder wenn dieser Drecksack von Entführer endlich auftaucht.‘
Aber, und diese Frage wurde mit wiederkehrendem Bewusstsein immer deutlicher, was wollte der eigentlich von ihm? Erpressung? Womit? Oder war es pure Mordlust eines Irren, der sich daran aufgeilt, wie jemand in seiner Gewalt ganz langsam vor die Hunde geht? Hatte der etwa auch Ronja in seiner Gewalt?
Panik stieg in ihm auf. ‚Mein Gott, Ronja, mein Schatz. Hat man dir weh getan?‘ Er hätte verrückt werden können, in seinem Unwissen um den Zustand seiner geliebten Frau. Sie hatte so viel ertragen müssen, vor und während ihres Hausbaus. Immer wieder hatte sie in vorderster Front mit den Handwerkern diskutieren und verhandeln müssen. Während er meist im Ausland weilte, um seine Bauprojekte zu beaufsichtigen.
Sein Chef kannte da keine Gnade. „Kümmern Sie sich ruhig um Ihren Hausbau“, hatte er hämisch getönt. „Aber dann brauchen Sie hier nicht mehr aufzutauchen.“ Dabei wusste Leon ganz genau, dass sich der alte Rommert einen solchen Rausschmiss gar nicht leisten konnte.
Denn Körner war es, der die einträglichsten Projekte an Land zog, der absolute Spitze war in der Akquise. Millionenaufträge hatte er ins Planungsbüro ‚Franz Rommert und Sohn‘ nach Berleburg geholt. Und er hatte sie als Chefplaner auch betreut bis zur Fertigstellung. „Er schleppt wieder gebündeltes Bares an“, sagten dann die Kollegen anerkennend.
‚Vielleicht hätte ich es einfach mal drauf ankommen lassen sollen‘, hatte er schon öfter überlegt. ‚Einfach mal wegbleiben und schauen, was der Laden so ohne dich produziert.‘
Sicher, seine drei jungen Kollegen machten sich gut, waren aber allesamt während ihres dualen Studiums von ihm geführt und in allen Kniffen des Berufs unterrichtet worden. Diesen Job hatte ihm der ‚Alte‘ angetragen. Gegen ein Sonderhonorar. Weil der Junior des Unternehmens, Pius Rommert, eine absolute Pfeife war. Von Beruf Sohn. Für andere Aufgaben nicht zu gebrauchen.
Mit Hängen und Würgen hatte der sein Architekturstudium auf die Reihe gebracht und war anschließend im heimischen Büro aufgetreten wie Rotz am Ärmel.
Doch innerhalb recht kurzer Zeit hatte sich dieser Lackaffe selbst derart ins Abseits gekarrt, dass selbst sein Vater laut darüber nachdachte, den Junior nicht nur aus dem Firmennamen, sondern auch ganz aus dem Planungsbüro zu verbannen.
„Murks in Millionenhöhe können wir uns nur einmal leisten“, hatte der Senior gebrüllt, „dann sind wir im Arsch. Und Du kannst Dein süßes Leben vergessen.“
Pius war mit hochrotem Kopf und seinem Laptop unter dem Arm aus dem Büro geflüchtet und ward für lange Zeit nicht mehr gesehen. Erst Tage später war Leon das bestens gehütete Geheimnis über besagten Murks offenbart worden. Und er erschrak fürchterlich.
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