„Ich werd´ verrückt. Ich werde komplett verrückt!“, rief sie und sprang von ihrem Sessel auf. Mit unklarem Ziel durchstreifte sie leicht schwankend die untere Etage ihres Hauses und schaute jeden ihrer Nachbarn mit fragendem Blick an. „Wo kann er nur sein? Das gibt´s doch gar nicht.“
Holger fing sie ein und versuchte, Ronja zu beruhigen. „Das muss gar nichts bedeuten. Dieser Orkan rast zurzeit durch ganz Mitteleuropa. Wer weiß, wo unterwegs überall die Handy-Netze zusammengebrochen sind. Ich bin sicher, Leon wird sich von sich aus melden, sobald er kann.“
„Aber ich habe doch mit seiner Firma gesprochen. Die Kollegen sagen, er sei zu ihrer Überraschung bereits gestern Mittag losgefahren, aber in Potsdam bis zum Abend noch nicht angekommen. Es könne zwar sein, dass er wegen des drohenden Sturms direkt zur Baustelle nach Luckenwalde gefahren sei. Doch dort wäre im Moment niemand im Baubüro erreichbar. Könne aber auch sein, dass Leon auf der Baustelle unterwegs ist. Und die sei sehr weitläufig, hieß es.“
„Na siehst Du“, redete nun Dorothee beruhigend auf sie ein. „Es wird sich alles aufklären. Mach´ Dir nicht so viele Gedanken.“
‚Schön wär´s’, dachte sich Ronja und strich über ihren Bauch. ‚Ausgerechnet jetzt, wo ich ihn so dringend bräuchte.’ Seit gestern Nachmittag wusste sie, dass sie im dritten Monat schwanger ist. Und sie hatte es ihm noch nicht erzählen können.
„Ach du Schande, wie sieht's denn hier aus?“ Mit weit aufgerissenen Augen stand plötzlich Holgers Vater Gerhard in der Wohndiele des Hauses und strich mit einer Hand durch seine zerzausten Haare. Er war durch die Haustür reingekommen, nachdem niemand die Klingel gehört und er gesehen hatte, dass der Schlüssel außen steckte Der Fußweg hierher hatte ihn ganz schön Kraft gekostet. Obwohl der Sturm deutlich nachgelassen hatte.
„Hat Euch eigentlich schon jemand gesagt, was da so unglaublich gekracht hat, bei dieser wahnsinnigen Orkanböe heute Morgen?“
„Nee, was denn, Papa?“
„Das war der leere Abfallcontainer, den die Baufirma draußen am Rand von Eurer Auffahrt hat stehen lassen. Der Sturm hat den regelrecht abgehoben und gegen das Garagentor geworfen. Dann ist er umgekippt und muss von Böen hin und her geschoben worden sein. Das Kreischen haben wir bis zu uns ins Wohnzimmer gehört. Deswegen bin ich auch hergekommen.“
„Und wo ist er jetzt?“, wollte Holger wissen.
„Ich hab' den mit einem Strick an Eurem Gartentor angebunden. Da kommt er von alleine net mehr weg.“
‚So ein Mist!“, rief Ronja. „Und ich blöde Kuh denke wer weiß was und reiße die Balkontür auf. Hätt' ich das bloß mal gelassen. Dann wäre das alles hier nicht passiert. Oh mein Gott, wenn Leon das mitkriegt …“ Dann bekam sie einen Weinkrampf.
Kurz darauf stand wieder ein Mann in der Diele. Doktor Bremer, der Notarzt, entschuldigte sich. „Sorry, ich hab mehrfach geklingelt. Hat offenbar niemand gehört bei dem Krach. Ich möchte mal kurz nach Frau Körner sehen“, hatte er seinen Besuch begründet.
Ronja empfing ihn mit verweinten Augen, äußerte aber Unverständnis über die Visite. „Außer Kopfschmerzen geht es mir eigentlich gut“, sagte sie dem Arzt, der sich auf einem Hocker neben ihrem Sessel niedergelassen hatte.
„Frau Körner, haben Sie einen Raum, der nichts vom Sturm abgekriegt hat und in dem ich mit Ihnen sprechen und Sie untersuchen kann?“
„Sprechen?“ Ronja ahnte Fürchterliches. „Ist etwa was mit meinem Mann?“
„Nein, nein“, lachte Doktor Bremer. „Wie kommen Sie denn darauf? Nein, der Rettungssanitäter hat mich nur gebeten, einmal nach Ihnen zu sehen.“
„Ach so, ja. Kommen Sie bitte mit rauf. In der oberen Etage ist zum Glück fast alles heil geblieben.“
Als sie oben angekommen waren, wurde es der jungen Frau leicht schummerig. „Ich habe noch nicht gefrühstückt“, entschuldigte sie sich bei dem Mediziner und setzte sich auf die Bettkante.
„Oh, das sollten Sie aber schleunigst ändern. Das ist in Ihrem Zustand gar nicht gut, Frau Körner.“ Dann rief er über die offene Treppe nach unten: „Kann von Ihnen vielleicht jemand einen Kaffee machen, falls das möglich ist? Und ein oder zwei Schnitten Brot?“
„Ich versuche mein Bestes“, kam eine Frauenstimme postwendend zurück. Sie gehörte Dorothee.
„So, Frau Körner, Sie legen sich am besten einmal bequem auf Ihr Bett. Ich möchte eine kleine Untersuchung machen. Denn der Rettungssanitäter, der Herr Hennhöfer, hat mir verraten, dass Sie in anderen Umständen sind.“
„Ja“, antwortete sie mit leiser Stimme. „Ich hatte es ihm wohl gesagt. Kann mich aber nicht mehr so genau erinnern.“
„Haben Sie sich übergeben müssen heute Morgen, oder hatten Sie zumindest ein entsprechendes Gefühl, das Sie unterdrücken mussten?“
„Nein, hatte ich nicht. Wieso fragen Sie? Wegen meiner Schwangerschaft? Die läuft vollkommen unproblematisch.“
„Ja“, entgegnete der Arzt, „auch deshalb. Aber vor allem auch, weil ich ausschließen möchte, dass Sie sich bei dem Sturz mit dem Kopf gegen die Wand eine Commotio zugezogen haben.“
„Eine was?“
„Eine Commotio. Eine …“
„Klar“, unterbrach sie ihn, „eine Gehirnerschütterung, weiß schon. Hab' Sie vorhin bloß akustisch nicht richtig verstanden.“
„Aha“, lächelte Doktor Bremer und leuchtete Ronja mit einer kleinen Taschenlampe nacheinander in beide Augen, indem er ihre Lider mit zwei Fingern spreizte.
„Aber an eine Commotio glaube ich nicht“, meinte Ronja. „Nur die Beule tut wirklich schrecklich weh.“
„Das glaube ich sofort. So etwas tut aberwitzig weh, klingt aber in der Regel ziemlich schnell wieder ab, wenn kein Knochen drunter verletzt ist. Wir sollten das unter allen Umständen röntgen lassen.“
„Ich bitte Sie, Herr Doktor, wenn der Schädel was hätte, dann …“
„Stopp, stopp, stopp, Frau Körner. Ich bin hier der Arzt. Sie sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wie ist es denn mit Ihrem Schwindelgefühl und mit ihrer Benommenheit?“
„Ach, das legt sich sicher schnell wieder. Sobald ich etwas gegessen und getrunken habe, bin ich wieder fit.“
„Also immer noch benommen?“
„Ja, ein wenig. Und ich hab' so ein Gefühl auf der Zunge, als hätte ich an einer Batterie gelutscht. Ganz seltsam.“
Der Arzt öffnete seinen Notfallrucksack und zog eine Spritze auf. „Ich gebe Ihnen jetzt erst einmal ein Mittel zur Stärkung Ihres Kreislaufs und dann eines gegen die Schmerzen.“
„Novaminsulfon oder Tramal?“, wollte sie wissen.
„Nein, nein, mit solchen Kanonen möchte ich wegen Ihrer Schwangerschaft jetzt nicht schießen.“
„Ich weiß“, sagte Ronja. „Ich kenne die Wirkungen. Ich bin nämlich Krankenschwester.“
„Ui, wo denn?“
„In der Heliosklinik in Berleburg.“
„Na, dann müssten Sie eigentlich wissen, dass ich Sie jetzt dort einweisen muss.“
„Oh Gott, nein. Bitte nicht, Herr Doktor. Sie haben doch gesehen, wie es hier aussieht. Ich muss mich um unser Haus kümmern. Denn mein Mann …“ Die Tränen, die jetzt aufstiegen, waren nicht zu bremsen. „Mein Mann ist …“ Wieder versagte ihre Stimme.
„Was ist mit Ihrem Mann?“, fragte der Arzt nach.
Stilles Weinen war die Antwort. Ronja spürte, wie ihre Kraft förmlich aus ihrem Körper herausfloss. „Er ist …, er ist auf Dienstreise nach Potsdam spurlos verschwunden.“ Dann war es aus mit ihrer Contenance. Sie warf den Kopf herum und vergrub ihr Gesicht in einem Kissen. Ihr Körper bebte unter Weinkrämpfen.
Doktor Bremer ließ sie weinen. Auch noch, als Dorothee mit einem Tablett, zwei Pötten Kaffee und vier Leberwurstbroten auftauchte. „Ich dachte, Sie haben heute sicher auch noch keine Gelegenheit gehabt zum Essen.“
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