Was sie sah, verblüffte sie. Zwei Schreiner waren dabei, den vom Sturm zerlegten Türflügel durch einen neuen zu ersetzen. Der andere hing schon wieder in seinen erneuerten Angeln.
„Sagen Sie“, fragte sie den ersten der beiden Handwerker, „es kann doch wohl kaum sein, dass Sie den perfekt passenden Türflügel auf Zuruf liefern können. Als unser Haus renoviert wurde, haben wir allein zwei Monate auf Fenster und Türen warten müssen. Und die wurden, jedes für sich, vorher millimetergenau ausgemessen.“
„Das will ich Ihnen gerne sagen, antwortete der zweite Mann, offenbar der Chef. „Als die Körners ihr Haus geplant hatten, sollten ursprünglich sowohl das Wohnzimmer als auch die Küche gleich große Türen zum Balkon hin bekommen. Und die haben wir auch so beim Hersteller in Auftrag gegeben. Dann stellte sich aber heraus, dass die Küche umgeplant werden musste.
Also haben die Bauherren die Tür in der Küche durch ein Fenster ersetzt. Verstehen Sie?“, grinste er Mina an.
„Oh ja, das verstehe ich gut“, grinste sie zurück. „Also hatten Sie eine komplette Tür auf Lager. Falls mal eine kaputt geht. Oder wie?“
„Naja, so ähnlich. Auf jeden Fall gehört sie den Körners. Wir haben sie schließlich nach Maß für sie bestellt. Wenn allerdings jemand gekommen wäre, der die komplette Tür hätte kaufen wollen, dann hätten Leon und Ronja das Geld dafür zurückbekommen. Aber so hatten wir wenigstens gleich passenden Ersatz, als Holger anrief und fragte, ob wir helfen können.“ Dann dreht der Schreiner ab. „Sorry, muss weitermachen, entschuldigen Sie.“
„Aaaaachtung!“, rief es hinter ihr. Als sie sich herumdrehte, fuhren gleich drei Nachbarn nebeneinander mit Besen auf sie zu. Sie schoben eine Menge Schmutz und Scherben vor sich her. „Habt Ihr noch'n Handfeger?“, fragte sie.
„Klar. Komm. Hier ist noch einer.“
Draußen begann der Sturm erneut sein ungutes Pfeifen und Orgeln. Die Jalousie an der ‚Türbaustelle’ wummerte in bedrohlichem Rhythmus hin und her. Doch die Schreiner ließen sich davon nicht beirren und arbeiteten wie im Akkord. Das hier würde für sie sicher nicht ihr einziger Reparaturauftrag heute bleiben. Der Chef wunderte sich ohnehin, dass bis jetzt nicht schon weitere Hilferufe per Handy reingekommen waren.
Am Pult des ‚Leitenden’ summte es. Während des Orkans hatte die Leitstelle in Siegen die 110-Anrufe aus dem Wittgensteiner Land auf die Wache in Berleburg durchgeschaltet. „Polizeinotruf Bad Berleburg“, meldete sich Weinrebe. Auf der anderen Seite war nur ein Knarzen zu hören.
„Hier ist der Notruf, wer ist da bitte?“, wiederholte Sam.
Wieder nur dieses Knarzen – und dann ein tiefer Atmer und ein rollendes, schnell abebbendes Dröhnen.
„Hallo, können Sie mich hören? Wer sind Sie.“
„Tut nichts zur Sache.“
„Befinden Sie sich in einer Notlage?“
„Nein, ich nicht“, kam es sehr dumpf, wie durch Watte gesprochen. Dann wieder Pause und Knarzen.
„Wer ist denn dann in Not?“, hakte Weinrebe beharrlich nach.
„Ein Mann im Kofferraum.“
„Wer?“
„Ein Mann im Kofferraum.“
„Habe ich Sie richtig verstanden? Da ist jemand in einem Kofferraum?“
„Ja“, kam es dumpf zurück.
„Wer ist das?“
„Spielt keine Rolle.“
„Sagen Sie wenigstens, wo das ist?“
„In einem Wald bei Grünewald.“
„Wo genau? Können Sie das sagen?“
‚Klack’. Die Leitung war tot. Sam versuchte zwar noch durch Nachfrage, das Gespräch wiederzubeleben. Doch das war sinnlos. Der Anrufer hatte aufgelegt.
„Scheiße!“, brüllte Weinrebe. „Verfluchte Scheiße! Wie sollen wir den denn finden? Und dann noch bei dem Wetter. ‚In einem Wald bei Grünewald’. Super! Wir haben hier tausend Wälder ‚bei Grünewald’.“
Er brüllte so laut, dass Bernd Dickel, der sich oben seinem Aktenstudium hingegeben hatte, wieder herunterkam und sich nach der Ursache für den Gefühlsausbruch erkundigte.
Weinrebe beschrieb mit hochrotem Kopf die Situation und heischte um Verständnis für seine Wut: „Entschuldige, aber wie sollen wir denn helfen, wenn wir nicht wissen, wo, verdammt noch mal.“
„Is´ ja gut. Aber jetzt hilft eher ein kühler Kopf als jede Aufgeregtheit. Hast Du ´ne Nummer von dem Anrufer?“
„Natürlich nicht. Das wär´ ja auch zu einfach, Chef“, grinste Weinrebe verkniffen. „Die war unterdrückt.“
„Fangschaltung aktiviert?“
„Dafür war der Anruf zu kurz.“
„Mist!“
„Siehste. Ich sag´ ja, das ist ´ne verdammte … Kacke.“
„Okay, lass´ mal den Anruf hören. Vielleicht kann man da was draus erkennen.“
Sam gab zwei Befehle auf dem Display im Funktisch ein und ließ das Gespräch über Lautsprecher laufen.
„Ach du lieber Gott, das kann ja jeder sein, so gedämpft und mumpfig wie das ist. Für eine Identifizierung der Stimme wahrscheinlich überhaupt nicht zu gebrauchen. So eine verd…“ Dickel bremste sich noch rechtzeitig.
„Ich glaub´, wir sollten die Kollegen von der Kripo um Hilfe bitten“, meinte Weinrebe. „Vielleicht kann Sven Lukas da noch was rausfiltern.“ Der Kollege Lukas, wegen seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten im elektronischen und digitalen Bereich auch ‚der Freak’ genannt, hatte schon öfter mal unglaubliche Erfolge gefeiert, wo andere Spezialisten längst baden gegangen waren.
„Gute Idee, mach´ das“, antwortete Bernd Dickel. „Ich alarmiere schon mal, was wir alarmieren können. Vorsichtshalber auch schon mal ´ne Hundertschaft. Wir können ja hier nicht die Hände in den Schoß legen. Aber bei dem Sturm … Mann, wie soll denn das gehen?“ Der Revierleiter raufte sich die Lockenpracht.
Der ‚Freak’ war sofort angefixt von seinem neuen Auftrag, den er mit Freuden übernahm. „Wär´ doch gelacht, wenn wir dem Menschen nicht auf die Spur kämen“, quittierte er Weinrebes Bitte um möglichst schnelle Ergebnisse. Doch beim Anhören des Gesprächs verfinsterte sich seine Miene zusehends. „Ach du dickes Ei“, murmelte er vor sich hin, „wie beschissen abgefahren ist das denn?“
Sein Hirnschmalz schien in Nullkommanix dem Siedepunkt entgegen zu kochen, während er sich die Stimme und das Geknarze wieder und wieder anhörte. Dann geriet er in Hektik. „Action!“, brüllte er und raste mit beiden Händen über das Mischpult, um hier einen Regler hochzufahren und dort einen Knopf zu drücken. Oben drüber flammte ein Display auf, das die einzelnen Funktionen des Pultes elektronisch abbildete.
Zehn Minuten später öffnete Sven die Tür seines ‚Labors’ und rief in den Flur: „Hat mal jemand Zeit? Kann mal jemand kommen?“
„Momääähääänt!“, rief's aus Borns Büro. Claudia Siegemund bat ebenfalls um etwas Geduld. Aber kurz darauf waren sie zu dritt und lauschten den Tönen, die aus den großen Boxen kamen. Sie hörten eine merklich zurückgenommene Stimme, die einem Mann um die dreißig gehören konnte. „Schon mal gehört?“, fragte der Freak die Kollegen.
„Nein.“ Beide schüttelten den Kopf. „Wieso, was is´n mit dem?“, wollte Claudia wissen. Denn Sven hatte lediglich ein Gesprächsfragment in mehreren Varianten vorgespielt. Aus dem hatte er die Stimme am besten herausextrahieren können.
„Hallo, können Sie mich hören? Wer sind Sie?“ „Tut nichts zur Sache.“ „Befinden Sie sich in einer Notlage?“ „Nein, ich nicht.“
„Der weiß angeblich von einem Menschen in einem Kofferraum, der in Not ist. Erklärt aber nicht genau, wo das ist. ‚In einem Wald bei Grünewald’ hat er gesagt. So ein Vollidiot, dieser Typ!“
„Wie denn jetzt? Ein Entführer, den sein Gewissen plagt? Oder wie muss man das verstehen?“ Pattrick Born guckte ein wenig schräg, während er mit den Fingernägeln der rechten Hand fortwährend über die textile Hülle seines rechten Oberschenkels schabte. Den beiden anderen stellte sich eine Gänsehaut auf.
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