Anna ist froh, nicht sofort nach Hause gegangen zu sein, denn die Unterhaltung mit dem Fremden tut ihr gut. Der Mann mit der freundlichen Stimme ist ihr auf Anhieb sympathisch.
Als sie einige Zeit später aufsteht und sich verabschiedet, meint der Fremde:
„Vielleicht sehen … Entschuldigung, treffen wir uns an einem der nächsten Tage ja wieder auf dieser Bank. Darf ich Ihnen behilflich sein und Sie nach Hause begleiten?“
„Nein, danke, ich gehe den Weg täglich und die Strecke ist mir vertraut. Vielleicht treffen wir uns ja tatsächlich irgendwann noch einmal hier. Ich würde mich freuen.“
Ruhigen Schrittes ertastet sich Anna mit dem Blindenstock den Weg zurück in Richtung ihrer Wohnung. Als sie vom Waldweg auf den asphaltierten Bürgersteig einbiegt, meint sie, Schritte im gleichen langsamen Tempo wie ihr eigenes hinter sich zu hören. Sie misst dem jedoch keine Bedeutung bei.
Sie ärgert sich ein wenig, dass sie den Mann nicht nach seinem Namen gefragt hat. Sollten sie sich noch einmal treffen, würde sie es schön finden, ihn mit Namen anreden zu können.
Aber was soll‘s, er hat auch nicht nach meinem Namen gefragt, denkt sie.
Der Klinikleiter der Tagesklinik ist in Rage.
„Herr Grosse, was wollen Sie mir eigentlich sagen? Zuerst behaupten Sie, David Winter befinde sich nicht in seinem Zimmer, dann sagen Sie, dass er nun doch dort ist. Was soll das?“, regt er sich auf.
Dr. Hermann Renger ist Facharzt für Psychotherapie und Psychiatrie und seit zehn Jahren Leiter der Tagesklinik. Er ist schlecht gelaunt, wie so oft montags. Das freie Wochenende mit seinen beiden pubertären Töchtern hat ihn wieder einmal genervt.
Alexander Grosse, der bereits seit vielen Jahren in der Klinik als Sozialarbeiter tätig ist, steht vor seinem Schreibtisch und knetet nervös seine Hände. Das Unverständnis des Klinikleiters lässt seine Wangen erröten, was ihm äußerst unangenehm ist.
„Aber Herr Doktor, ich möchte doch nur bemerken, dass David heute Morgen mehrere Stunden nicht in seinem Zimmer war und niemand über seinen Aufenthalt Bescheid wusste. Gestern hat er sein Zimmer bezogen und heute Morgen war er mehrere Stunden spurlos verschwunden. Das geht doch nicht.“
Der Sozialarbeiter ist empört und versucht gar nicht erst, dies vor dem Klinikleiter zu verbergen.
„Aber jetzt ist er doch da, oder?“, fragt Dr. Renger genervt. „Heute beginnt doch die Milieutherapie, an der er teilnehmen soll. Die erste gemeinsame Besprechung mit allen Teilnehmern ist nach dem Mittagessen angesetzt. Da Sie ihn seinerzeit überzeugt haben an der Therapie teilzunehmen, dachte ich mir, es wäre vielleicht ratsam, dass Sie einmal vorher mit ihm sprechen“, verteidigt sich der Sozialarbeiter.
Alexander Grosse leistet immer gewissenhaft seine Arbeit und solch ein eigenmächtiges Handeln eines Patienten will er nicht ohne Weiteres hinnehmen. Er hat den Eindruck, dass er wieder einmal das Gespräch mit dem Patienten und damit die unangenehme Arbeit übernehmen soll. Von seinem Vorgesetzten scheint er kein Verständnis und keine Hilfe erwarten zu können.
„Soll ich mit David über den Vorfall sprechen?“, bietet er sich dennoch verärgert an.
„Lassen Sie es gut sein, er ist jetzt da und damit hat es sich. Aber wenn Sie wollen, sprechen Sie mit ihm und sagen Sie ihm, dass so etwas künftig nicht mehr vorkommen darf.“
Mit einer für ihn typischen Handbewegung, die seinen Unmut darstellen soll, beendet der Klinikleiter das Gespräch.
Resigniert verlässt Sozialarbeiter Grosse das Büro seines Vorgesetzten.
Die personelle Situation in der Tagesklinik ist wie in fast allen Kliniken. Zu wenig Personal – und das Personal, das Dienst hat, ist überfordert. Unregelmäßigkeiten zu hinterfragen, bedeutet zusätzliche Arbeit – und die will niemand. Auch der Klinikleiter nicht.
David Winter hat Anna beim Treffen am See angelogen. Er ist weder selbstständig in der Computerbranche, noch unterstützt er Firmen bei Computerproblemen. Auch hat er keine schöne, eigene Wohnung direkt in der Stadt. Er wohnt in einem Mehrfamilienhaus am Ortsausgang von Troisdorf in Richtung Siegburg. Dort teilt er sich mit einem anderen jungen Mann im Rahmen einer Wohngemeinschaft eine Wohnung. Zwei Zimmer und Küche – 45 Quadratmeter, mehr nicht.
Als er noch nicht Patient der Tagesklinik war, hatte er einen Ganztagsjob in einem kleinen Computerladen, wo er hauptsächlich Hardware reparierte und Softwareprobleme behob. Sein Chef hatte Davids exzellente Softwarekenntnisse frühzeitig erkannt und schätzte seine Arbeit. Seitdem er die ambulante Behandlung in der Tagesklinik vor mehreren Wochen begonnen hat, kann er diesen Job nur noch nach Ende der täglichen Behandlung und samstags ausüben. Neben fachärztlicher Behandlung und psychologischer Psychotherapie nahm er an einer Reihe anderer Therapien teil. So zum Beispiel Ergo-, Kunst- und Musiktherapie. Diese Therapien wurden im Rahmen der Tagesklinik montags bis freitags in der Regel von neun bis sechzehn Uhr angeboten. In keiner der Therapien fühlte er sich wohl. Die behandelnden Ärzte erachteten daher eine Verlängerung für sinnlos.
Ab diesem Montag soll er nun an einer Milieutherapie, der sogenannten künstlichen Familie teilnehmen. Einer vorübergehenden Lebensgemeinschaft in der Klinik, die auf drei Wochen befristet ist. In seinem Job kann er während dieser Zeit nicht mehr arbeiten.
Leiter dieser Therapieform ist der Sozialarbeiter Alexander Grosse. Ihm zur Seite stehen zwei weitere Sozialarbeiter, ein Psychologe, ein Arzt, ein Koch und ein Verwaltungsmitarbeiter der Klinik.
Die beteiligten Patienten wohnen in dieser Zeit zusammen in der Klinik. Der Tagesablauf ist mit handwerklicher Arbeit, alltäglichen Tätigkeiten wie Kochen und Putzen sowie gemeinsamen Freizeitaktivitäten geregelt.
Abends sollen wichtige Punkte aus dem täglichen Zusammenleben mit den Betreuern besprochen werden.
Trotz der strengen Auflagen der Therapie, der alle Teilnehmer ausdrücklich und einheitlich zugestimmt haben, kann David es nicht lassen zum See zu fahren. Mit seinem Fahrrad dauert es nur wenige Minuten, bis er den See erreicht. Er weiß, dass die blinde Frau immer sehr frühzeitig morgens zum See kommt. Er konnte deswegen heute nicht am gemeinsamen Frühstück teilnehmen. Das ist ihm egal. Ihm würde sicherlich eine Ausrede einfallen und falls er eine Ermahnung bekäme, würde ihm das auch nichts ausmachen.
Heute Morgen am See hatte er gerade seinen Beobachtungsposten eingenommen, als Anna den See erreichte. Er fühlte, wie das Adrenalin in seinen Körper schoss und sich ein unglaubliches Lustgefühl ausbreitete.
Nur das heimliche Beobachten reichte ihm nicht mehr. Er wünschte sich Kontakt zu dieser Frau. Er musste mehr von ihr sehen. Er wollte sie in ihrer Privatsphäre beobachten. Einer plötzlichen Eingebung folgend, beschloss er, sie heute anzusprechen. Hätte er sich das lange vorher überlegt, wäre er mit Sicherheit viel zu aufgeregt gewesen. So hatte er sich spontan zu diesem Schritt entschlossen – und er hatte es geschafft. Es war einfach herrlich. So nah, direkt neben der Frau zu sitzen, ihren Körper zu betrachten, ihren Atem zu spüren. Und dieses überwältigende Gefühl will man ihm in der Klinik abgewöhnen.
Der Arzt hat ihm erklärt, dass es sich bei ihm um einen krankhaften Voyeurismus handelt, der behandelt werden muss. Er hat den Arzt verstanden und einer Behandlung zugestimmt. Ihm ist klar, es ist wie eine Sucht. Zeit seines Lebens hat er dieses starke Gefühl immer wieder gesucht, immer öfter, immer bei anderen und unterschiedlichen Frauen. Es gab Zeiten, da war er völlig desorientiert, nur vom Gefühl gesteuert. Er konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren.
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