Eine Blindenschule übernahm ihr Training, damit sie immer mehr lernte, sich außerhalb der Wohnung zu bewegen. Auch musste sie lernen, in Kontakt zu ihren Mitmenschen zu treten. Die Psychologin half ihr dabei, den Mut zu finden, allein den Schritt heraus aus ihrer heimischen Umgebung zu wagen und Menschen anzusprechen und gegebenenfalls um Hilfe zu bitten.
All die Geräusche, die früher selbstverständlich für sie gewesen waren, die sie gar nicht wahrgenommen hatte, stellten jetzt eine Bedrohung für sie dar. Der Autolärm, die vorbeihastenden Menschen, Schreie der Kinder oder die Hektik im Supermarkt machten ihr Angst.
Sie war noch nicht darauf eingestellt, dass jetzt die verbliebenen Sinne die Aufgaben des fehlenden Augenlichtes übernehmen mussten. Nur tägliches, hartes Training konnte helfen.
Diszipliniert führte sie dieses Training durch. Wenn sie allein war, ging sie manchmal zur Haustür. Bis dort fühlte sie sich sicher. Sie stellte sich dann neben die Tür und sog die Geräusche wie ein Schwamm in sich auf, sodass sie sich immer mehr daran gewöhnte. Der Radius, in dem sie sich bewegte, wuchs ständig.
Nach fast einem weiteren, anstrengenden und aufregenden Jahr konnte sie sich selbstständig und sicher außerhalb der Wohnung bewegen. Auch war sie durch die Betreuung ihrer Freundin, der Psychologin, inzwischen psychisch so stabil, dass sie allein für ihr Leben sorgen und inzwischen dieses auch immer öfter wieder genießen konnte.
Die Mütter mit ihren Kindern sind gegangen. Es ist still am See. Vor ihrem Unfall, als sie noch sehen konnte und die Welt noch in Ordnung war, spazierte Anna mit Tobias oft durch den Wald zum See. Jetzt empfindet sie den Wald und den See anders. Nicht, dass ihr Tobias fehlt, nein das ist es nicht. Die Geräusche des Waldes, des Sees und der Tiere verspürt sie jetzt viel intensiver. Sie verbindet die Geräusche der Natur und die Laute der Tiere mit Bildern, die sie früher gesehen und so sehr geliebt hat. Die Enten auf dem Wasser, das Schwanenpaar, das sanft über das Wasser gleitet, die unbewegliche Statue des Fischreihers auf der anderen Seite des Sees und der Sonneneinfall, der durch die hohen Bäume gebrochen wird.
Anna hört ein Piepsen in hohen Tönen. Wahrscheinlich eine Maus, denkt sie. Sie wundert sich, dass sie jetzt sogar diese Töne hören kann. Früher hätte sie diesen Tönen keine Beachtung geschenkt und hätte sie nicht einmal wahrgenommen. Seitdem sie blind ist, hat sich ihr Gehör anscheinend wesentlich verbessert. Sie freut sich über diesen Fortschritt.
Der tägliche Spaziergang, so wie heute, fast immer zur gleichen Zeit, ist eines ihrer vielen, eingeübten Rituale. Diesen Platz hier am Ufer des Sees liebt sie besonders.
Bestimmt hat jeder bereits einmal festgestellt, wenn man einen Menschen von hinten intensiv ansieht, dreht sich dieser mit einem Male um, als ob er den stechenden Blick in seinem Rücken gespürt hat.
Anna hat diese Erfahrung häufig gemacht. Oft drehen sich Passanten nach der hübschen, jungen Frau mit der dunklen Sonnenbrille um. Mitleid ist dann in vielen Gesichtern zu erkennen, wenn sie sehen, wie Anna sich den Weg mit dem Blindenstock ertastet. Sie ist sich dessen bewusst. Zu Beginn ihrer Blindheit spürte sie diese Blicke in ihrem Rücken. Im Laufe der Zeit verkümmerte die Sensibilität dafür und inzwischen ist ihr dieses Gefühl gänzlich verloren gegangen.
Daher spürt sie auch nicht die Blicke des jungen Mannes, dessen Gesicht zwischen den Zweigen eines Gebüschs heraus auf sie gerichtet ist. Der Mann beobachtet Anna intensiv und lautlos. An beinahe allen Tagen, wenn Anna diesen Platz zur Rast wählt, ist auch das Gesicht zwischen den Zweigen bereits dort. Der Mann scheint Anna zu erwarten. Wenn sie den Heimweg antritt, verlässt auch er sein Versteck und entfernt sich in die andere Richtung.
Anna bemerkt das nicht – wie soll sie auch.
Bisher hat er sie noch nie angesprochen oder sich zu erkennen gegeben. Bis heute.
„Guten Tag, darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragt eine junge, freundliche Männerstimme.
Anna, die gerade den Heimweg antreten will, erhebt sich und sagt: „Selbstverständlich können Sie sich hier setzen, für mich wird es Zeit zu gehen.“
„Ich möchte Sie nicht verjagen. Bleiben Sie doch noch. Schauen Sie, keine Wolke ist am Himmel und der Tag ist doch viel zu schön, um nach Hause zu gehen“, sagt der Fremde und setzte sich auf die Parkbank.
Anna, die nicht oft mit Menschen redet, nimmt diese Gelegenheit gerne wahr. Sie setzt sich wieder hin, in der Hoffnung auf einige, nette Minuten unverbindlicher Kommunikation.
In dem Moment scheint der Mann Annas Blindenstock zu bemerken und bedauert seinen vorherigen unbedachten Satz.
„Entschuldigen Sie bitte. Ich habe nicht bedacht, dass Sie blind sind.“
„Kein Problem“, erwidert Anna heiter.
„Sie haben ja recht. Die Sonne scheint noch so angenehm warm und es wäre schade, in der Wohnung zu sitzen“, sagt sie freudig zu dem unbekannten Fremden neben ihr.
„Sie kommen oft hierher“, sagt der Mann, mehr als Feststellung denn als Frage.
„Ich habe Sie bereits mehrmals hier gesehen. Ich komme aus der Stadt und spaziere hin und wieder hier am See vorbei und dann durch die Heide zurück“, fügt er als Erklärung hinzu.
„Das ist recht ungewöhnlich, dass ein junger Mann allein durch den Wald und durch die Heide spaziert“, entgegnet Anna.
„Das mag sein, aber dadurch komme ich an die frische Luft und kann von meiner Arbeit ein wenig entspannen. Wie kommen Sie darauf, dass ich jung bin?“
„Ihre Stimme klingt noch so jung“, sagt Anna und der Fremde scheint diese Erklärung zu akzeptieren, ohne ihr jedoch ausdrücklich zuzustimmen.
„Darf ich Sie fragen, was Sie beruflich machen?“
„Na klar. Das ist kein Geheimnis. Ich bin selbstständig und bin in der Computerbranche tätig. Hauptsächlich berate und unterstütze ich kleinere und mittlere Firmen bei Hard- und Softwareproblemen. Ich sage Ihnen, wenn Sie den ganzen Tag vor einem Bildschirm sitzen, freuen Sie sich über jede Minute in der freien Natur.“
„Das kann ich mir vorstellen. Dann wohnen Sie sicherlich direkt in der Stadt, von wo Sie es nicht weit bis hierhin haben?“
Anna ist neugierig geworden. Sie will mehr von dem unbekannten Fremden mit der freundlichen Stimme erfahren.
„Ja, … direkt in der Stadt habe ich eine schöne Wohnung. Nur der Wald und der See fehlen mir dort.“
Anna bemerkt das Zögern in der Antwort. Sie will nicht weiter fragen. Manchmal können zu viele Fragen unangenehm sein. Auch der Mann sagt nichts mehr.
Nach einer kurzen Pause nimmt der Mann das Gespräch wieder auf.
„Darf ich Sie auch etwas fragen?“
„Nur zu, wenn es nicht gerade zu intim ist.“
„Ich weiß nicht. Ich wollte Sie fragen, ob Sie von Geburt an blind sind oder ob sie später im Leben erblindet sind?“
Anna antwortet nicht sofort. Sie geht im Allgemeinen offen mit ihrer Behinderung um, aber heute mag sie nicht darüber sprechen. Daher antwortet sie nur kurz und etwas schroffer, als sie eigentlich will.
„Ein Unfall, ein Autounfall. Vor einigen Jahren.“
Der Mann versteht, dass Anna nicht darüber reden möchte und wechselt das Thema.
„Und noch eine Frage. Bestimmt nicht intim. Welche Musik mögen Sie?“
Anna ist erleichtert, dass er nicht nach ihrer kurzen Antwort aufsteht und geht, sondern weiter mit ihr reden will.
Es entwickelt sich ein angeregtes Gespräch über Popmusik und deren Interpreten. Anna und der junge Mann scheinen den gleichen Musikgeschmack zu haben.
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