Die letzte Verhaftung erfolgte Anfang des Jahres am Rande des Stadtparks. Er saß spätabends versteckt in einem Gebüsch. Mit seinem Fernglas beobachtete er in der gegenüberliegenden Wohnung eine junge Frau beim Entkleiden. Ein älterer Mann, der seinen Hund Gassi führte, überraschte ihn und rief die Polizei.
Der Ermittlungsrichter war einfühlsam und sah in David einen jungen Mann, der durch äußere Einflüsse vom Weg abgekommen war. Der Richter vermutete, dass die Grundlagen für seine Erkrankung bereits durch familiäre Erlebnisse in der Pubertät entstanden waren. Da er bisher nie gewalttätig in Erscheinung getreten war und sich seine Erkrankung lediglich auf das Beobachten von Frauen beschränkte, fand der Richter, dass man ihm eine Chance geben sollte. Er erließ keinen Haftbefehl. Durch intensive fachärztliche Hilfe sollte er wieder in die Gemeinschaft integriert werden.
Er fragte David, ob er einer solchen Behandlung zustimmen wolle. David, der um seine krankhafte Veranlagung selbstverständlich wusste, schämte sich grundsätzlich wegen seiner Neigung. Ohne Zögern stimmte er einer Behandlung zu. Natürlich war die Möglichkeit einer Strafe zu entgehen ebenfalls sehr verlockend. Er wolle ein anderer Mensch werden, versprach er dem Richter. Durch Kontakte des Richters konnte er bereits wenige Tage später eine ambulante Behandlung in der Tagesklinik beginnen.
An diesem Abend im Bett in der Klinik spult sich sein bisheriges Leben nochmals in seinen Gedanken ab. Er hat die blinde Frau kennengelernt und es ist alles nicht mehr so, wie es war oder wie es werden sollte. Das Versprechen, das er dem Richter gegeben hat, schiebt er in die entlegenste Windung seines Gehirns.
Er denkt an Konrad, seinen Freund und Mitbewohner. Konrad kennt Davids Veranlagung und versteht ihn. Manchmal, wenn sie abends im Bett lagen und rumalberten, zog Konrad ihn mit seinen Frauen auf und machte sich lustig über ihn. Natürlich nur im Spaß. Beide lachten und David erzählte ihm dann Geschichten seiner Beobachtungen, die er reichlich ausschmückte. Er war dann richtig stolz auf sich.
Konrad hatte nie etwas zu erzählen. Er hatte weder etwas mit Frauen, noch mit Männern. Für ihn gab es nur seine Arbeit und in der Freizeit seinen Computer.
David fragt sich: Will er so werden wie sein Freund? – Nein, das möchte er nicht.
Es mehren sich die ernsthaften Bedenken, ob er weiterhin die Kraft und Ausdauer aufbringen kann, eine Änderung seines Verhaltens herbeizuführen.
Vor allem hat er Zweifel, ob er diese Behandlung hier noch will.
Irgendwann fallen ihm die Augen zu und er versinkt in einen unruhigen Schlaf.
Er drückt auf alle Knöpfe der Klingelanlage.
„Guten Morgen, hier ist Der Tiefkühlfavorit . Wären Sie so freundlich und würden mir bitte die Haustür öffnen?“, spricht der gutaussehende Mann höflich in die Sprechanlage eines Mehrfamilienhauses.
Der Türöffner summt mehrere Male, ohne dass sich ein Hausbewohner durch die Sprechanlage meldet.
Der Verkaufsfahrer kennt sich gut aus in den Wohnanlagen dieses Viertels der Stadt und der überwiegende Teil ihrer Bewohner ist ihm bekannt, vorzugsweise aber die Bewohnerinnen. Die jungen, hübschen, blonden Frauen und auch manche Schwarzhaarige haben es ihm angetan. Wenn er irgendwo klingelt, lässt man ihn immer ohne jegliche Nachfrage ins Haus. Er ist halt allgemein bekannt und beliebt.
Seinen Transit mit dem reichhaltigen Angebot an Tiefkühlkost parkt er an einer zentralen Stelle im Hochhausviertel. Sternförmig beliefert er von dort die Kunden. Wenn er sich in einem Haus längere Zeit aufhält, ist dies nicht auffällig. Die Frauen kennen ihn und lieben seine unverbindliche und manchmal etwas frivole Art der Kommunikation. Er weicht nie einem Gespräch aus, sofern seine Gesprächspartnerin hübsch und attraktiv ist. Dann kann sich der Besuch auch über eine längere Zeit erstrecken.
Heute steht unter anderem Frau Blumenröder auf seiner Liste. Eine blonde, attraktive Mittzwanzigerin. Er findet sie reichlich naiv, freut sich aber immer wieder auf das Gespräch mit ihr. Er fühlt sich ihr weit überlegen. Die eine oder andere seiner, mit einem Lächeln verpackte, etwas anstößige Bemerkung, lässt Frau Blumenröder immer die Röte ins Gesicht schießen. Er nimmt dies wohlwollend zur Kenntnis und registriert mit Freude, wie sich eine gewisse Begierde auf diese junge, hübsche Frau bei ihm einstellt.
Sie arbeitet als Friseurin und hat montags ihren freien Tag. Auf seiner heutigen Tour hat er sie daher eingeplant.
Er klingelt an ihrer Wohnungstür, die sich erstaunlicherweise sofort öffnet. Wahrscheinlich hat sie seinen Wagen bereits vom Fenster aus gesehen und erwartet ihn.
„Guten Morgen Frau Blumenröder. Wie geht es Ihnen heute? Hatten Sie eine schöne Nacht?“, sprudelt es fröhlich aus seinem Mund.
Ein leichtes Lächeln, nicht zu provokant, umspielt seine Mundwinkel. Die junge Frau wird verlegen und in ihrem Gesicht steigt eine ihr unangenehme Röte auf. Sie schlägt die Augen nieder und ist zu keiner schlagfertigen Antwort in der Lage. Sie fühlt sich ertappt. Sie wohnt in der Wohnung zwar allein, aber ihr Freund hat die letzte Nacht wieder einmal bei ihr verbracht. Es war tatsächlich eine schöne Nacht, findet sie.
Verschämt streicht sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und meint mit leisem Ton:
„Zwei Tüten Suppengemüse, drei Pakete Maultaschen und zwei Tüten Leberkäse, bitte. Das wäre für heute alles.“
Wie selbstverständlich drängt der Verkaufsfahrer Frau Blumenröder zurück in die Wohnung und kann auf diese Weise den kleinen Wohnungsflur betreten. Er notiert die Bestellung auf dem eigens dafür vorgesehenen Bestellbogen, den er hierzu auf einem kleinen Schränkchen ablegt. Dabei fällt das Schlüsselbund, das auf dem Schränkchen liegt, in sein Blickfeld. Reflexartig, ohne zu überlegen, lässt er das Bund in seiner Kitteltasche verschwinden.
„Gerne, Frau Blumenröder. Ich hole eben die Sachen und bin sofort wieder bei Ihnen. Lassen Sie die Tür nur offen, es dauert nicht lange.“
Mit diesen Worten lässt er Frau Blumenröder allein, eilt die Treppen hinunter und mit großen Schritten zu seinem Lieferwagen. Ihm ist klar, jetzt ist Eile angesagt. Im Wagen hat er für solche Fälle ein Set mit Knetmasse. Geschickt stellt er damit einen Abdruck des Wohnungsschlüssels her. Schnell die bestellte Ware in den Korb legen und dann zurück zu Frau Blumenröder, bevor diese bemerkt, dass er ihren Schlüssel kurz ausgeliehen hat.
Etwas außer Atem erreicht er wieder die Wohnungstür von Frau Blumenröder, die ihn erwartet.
Ihre Wangen haben noch immer diese bezaubernde, rote Tönung.
„Da bin ich wieder. Habe ich mich nicht beeilt?“, fragt er lächelnd, um seine Atemlosigkeit zu begründen.
„Ja, das stimmt“, antwortet die Kundin erwartungsgemäß.
Er stellt den Korb in der Diele auf dem Schränkchen ab und lässt dabei den Schlüssel geräuschlos aus seiner Hand gleiten.
„So, jetzt noch eine Unterschrift hier unten, Frau Blumenröder. Der Rechnungsbetrag wird wie immer von ihrem Konto abgebucht.“
„Ja, ist in Ordnung.“
Frau Blumenröder unterschreibt den Beleg, den der Verkaufsfahrer ihr hinhält.
„Auf Wiedersehen. Noch einen schönen Tag“, sagt dieser und verschwindet eilig in Richtung Treppenhaus.
Frau Blumenröder kann gerade noch ein „Vielen Dank“ hinterherschicken, bevor sie ihn aus den Augen verliert.
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