„Du auch“, flüsterte er.
Am nächsten Tag, als David aus der Schule nach Hause kam, war sein Bruder nicht mehr da.
Seine Mutter sagte ihm nur kurz, dass sein Bruder sie verlassen hatte. David fragte nicht weiter. Er hatte das Spiel verloren, Schicksal eben. Und gegen das Schicksal hatte er schlechte Karten gehabt.
Jahrelang hörte David von ihm nichts mehr. Seine Mutter sagte einmal zu ihm, dass er seinen Bruder vergessen solle. Er wäre total introvertiert und würde sich sowieso nicht für ihn interessieren und nur in seiner eigenen Welt leben. Damals verstand David nicht, was introvertiert bedeutet, glaubte aber verstanden zu haben, was seine Mutter meinte. Für ihn trug seine Mutter nicht nur die Schuld an der Trennung von seinem Vater, sondern auch am Weggang seines Bruders.
David war seitdem allein mit seinen Problemen und die Abscheu seiner Mutter gegenüber entwickelte sich langsam aber stetig zu einem Hassgefühl.
„Ich bekomme heute Abend Besuch. Bernd kommt vorbei. Du gehst rechtzeitig ins Bett“, eröffnete seine Mutter ihm eines Tages, als er gerade dreizehn Jahre alt war. Bernd kam sehr früh. Zur Begrüßung tätschelte er mit aufgesetzter Freundlichkeit Davids Kopf. Seine Mutter verlor keine Zeit, ihn in sein Zimmer zu drängen. Der Ärger über die für ihn unverständliche Abschiebe ins Bett und der vehement aufkommende Hass gegen seine Mutter ließen ihn nicht einschlafen.
Nach einiger Zeit vernahm er bekannte Geräusche, die aus dem Schlafzimmer seiner Mutter zu kommen schienen. Es waren die gleichen Geräusche, die er früher vernommen hatte, wenn sein Vater Bier getrunken hatte und er im Bett lag und sich die Ohren zuhielt. Er hörte wieder dieses Stöhnen. Doch seine Mutter weinte im Gegensatz zu früher nicht. Er hörte ihre helle Stimme lachen. Auch schimpfte dieser Mann, den sie Bernd nannte, nicht mit ihr.
Vorsichtig stieg er aus seinem Bett und schlich auf nackten Füßen zum Schlafzimmer seiner Mutter. Die Geräusche wurden lauter. Bernd stöhnte laut, wogegen seine Mutter spitze Schreie ausstieß und Worte zu Bernd sagte, die er nicht kannte, die sich aber obszön und schmutzig anhörten.
Vorsichtig näherte er sich der nur angelehnten Schlafzimmertür. Nein, ein Zurück gab es jetzt für ihn nicht mehr. Er musste wissen, was da drinnen vor sich ging.
Mit spitzen Fingern drückte er gegen die Türe, bis sich ein kleiner Spalt ergab, durch den er ins Zimmer blicken konnte. Was er dort sah, ließ ihm den Atem stocken.
Seine Mutter und Bernd waren nackt. Bernd lag auf dem Rücken. Seine Arme und Beine waren gespreizt und mit Riemen am Bettgestell angebunden. Seine Mutter saß auf Bernd wie auf einem Pferd, den Oberkörper nach vorne gebeugt. Ihre Brüste pendelten schlaff vor dem Gesicht von Bernd hin und her. Beide bewegten sich im Takt auf und ab, wobei seine Mutter mit den Fäusten auf den Brustkorb von Bernd hämmerte, der immer lauter stöhnte. Manchmal hörte es sich an, als wenn er „nein“ stöhnte, dann wieder meinte David ein stöhnendes „ja“ zu vernehmen.
David schlug eine Hand vor den Mund, fuhr herum und lief so schnell er konnte zur Toilette, wo er sich übergab. Dann eilte er wieder zu seinem Zimmer und verkroch sich unter die Decke, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Er hielt sich mit den Händen wie früher beide Ohren zu. Er schluchzte.
„Was macht meine Mutter da drinnen bloß mit Bernd?“, fragte er sich.
„War es das, was Frauen und Männer unter Sex verstehen?“
Er war schockiert. So etwas Ähnliches hatte er schon mal aus Gesprächen der Schüler der höheren Klassen entnommen.
Nun wusste er, dass diese nicht gelogen hatten. Er kannte jetzt die eklige Tatsache. Wie konnte seine Mutter Bernd nur so behandeln. Bernd tat ihm fast leid. Und seine Mutter – die hasste er jetzt noch mehr.
„Verhalten sich alle Frauen so?“, fragte er sich.
„Wenn das der Fall ist, will ich nichts mit Frauen zu tun haben“, entschied er spontan.
In den folgenden Monaten und Jahren brachte seine Mutter immer häufiger verschiedene männliche Besucher mit nach Hause. David stellte fest, dass das Geschehen im Schlafzimmer immer gleich ablief. Er empfand, dass seine Mutter alle ihre Männer quälte und erniedrigte. Eine dauerhafte Beziehung entstand mit keinem der Männer.
Seine Mutter war für ihn das Abbild aller Frauen und durch ihr Verhalten wuchs in ihm eine Abscheu gegen die Frauen im Allgemeinen.
Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass ihn im Laufe der nächsten Jahre das Äußere mancher Mädchen magisch anzog und erregte. Er konnte sich dennoch nie überwinden, ein Mädchen anzusprechen oder sogar den Versuch zu unternehmen, eine Freundschaft zu beginnen.
Nun war er auch nicht gerade der Typ, auf den die jungen Frauen flogen. Er wirkte depressiv und hatte daher auf seine Mitmenschen eine negative Ausstrahlung. Es kam ihm vor, als hätten seine depressiven Stimmungen irreversible Schäden in seinem Gesicht hinterlassen, die für alle Mitmenschen sichtbar waren. Es kam sehr selten vor, dass er lachte und seine Zahnlücke zwischen den oberen beiden Schneidezähnen machte ihm das Leben auch nicht leichter. Um es mit einem Wort zu sagen, er war nichtssagend.
In der Schule nahmen ihn seine Mitschüler nicht ernst und trauten ihm nichts zu. Er beteiligte sich fast nie am Unterricht und von den Lehrern wurde er übersehen oder kritisiert, falls er einmal eine Antwort gab.
Er lebte sein junges Leben für sich und entwickelte einen unbändigen Eifer, was die Computertechnik betraf. Er konnte sich abschotten und eine Zeitschrift über IT-Technik mit der gleichen Leidenschaft verschlingen, wie er mit den Fingern über die Tasten seines Notebooks flog.
Mit fast neunzehn Jahren geschah es dann doch. Er ging zum allerersten Mal eine nähere Beziehung zu einer Frau ein. Eva war eine zierliche, kleine Person, allerdings mit einem ausgeprägten Willen. Der Kontakt wäre aus seiner Sicht nie entstanden, wenn nicht Eva die Initiative ergriffen hätte. Auch zu Liebkosungen und der gegenseitigen Erforschung des Körpers ermunterte ihn Eva. Bis zu diesem Punkt genoss er das Zusammensein. Als Eva eines Tages, seine Mutter hatte für einige Stunden die Wohnung verlassen, mehr von ihm wollte als nur oberflächliche Zärtlichkeit und Streicheln, war er schockiert. Vor seinem inneren Auge spielten sich die Szenen seiner Mutter mit ihren Männern ab. Nein, er wollte von einer Frau nicht so erniedrigt werden, wie seine Mutter die Männer erniedrigte.
Direkt und ohne Umschweife forderte er Eva auf, die Wohnung zu verlassen. Eva war bestürzt und beleidigt, zumal David ihr keinerlei Erklärung für sein Verhalten gab.
In den nächsten Jahren hatte David hin und wieder kurze Beziehungen zu Frauen, die jedoch an dem entscheidenden Punkt immer wieder endeten. Zu sehr waren die Erinnerungen an seine Mutter und deren Männer und den damit verbundenen Ekel präsent.
Irgendwann zog er bei seiner Mutter aus und brach den Kontakt zu ihr ganz ab.
Inzwischen kam es auch nicht mehr zu kurzen Beziehungen zu Frauen. David begnügte sich mit dem Beobachten von willkürlich ausgewählten Frauen, das ihm zu einer gewissen Befriedigung verhalf.
In der Folgezeit legte er sich ein hochwertiges Fernglas sowie eine Kamera mit starkem Zoomobjektiv zu, die sein Vorhaben enorm unterstützten. Er entwickelte sich immer mehr zu einem krankhaften Voyeur.
Da er keine direkte Beziehung mehr zu Frauen hatte, verblassten im Laufe der Zeit auch die Erinnerungen an die schreckliche Zeit seiner Kindheit zu Hause.
In der Folgezeit griff ihn die Polizei mehrfach auf, als er die Persönlichkeitsrechte von Frauen verletzte, indem er sie mit einem Fernglas beobachtete oder mit der Kamera fotografierte.
Im vergangenen Jahr wurde er am Badesee verhaftet, als er aus einem Versteck Frauen mit seiner Kamera nahe heran zoomte und fotografierte.
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