Ihr Freund Tobias lebte nach wie vor bei ihr und wurde von ihr finanziell unterhalten. Er versorgte und unterstützte sie, soweit er konnte. Psychologisch war er allerdings nur bedingt in der Lage, ihr zu helfen.
Durch die Leistungen der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers und ihrer privaten Unfallversicherung hatte sie keine finanziellen Probleme. Ihr Freund schaffte alles herbei, was auf irgendeine Weise für seine Freundin und für ihn eine Hilfe darstellte. Der Preis spielte dabei keine Rolle.
Eines Tages, als Tobias Anna wieder einmal fragte, wie es ihr ginge und ob er ihr helfen könne, rastete sie völlig aus.
„Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie es um mich steht und wie ich mich fühle!“, schrie sie wütend.
„Wie sollst du auch? Du bist nicht blind – du kannst ja sehen“, fügte sie fast entschuldigend hinzu.
„Für dich ist Sehen normal, wie es für mich bis zu dem Unfall ebenfalls war. Erst jetzt, wo ich nicht mehr sehen kann, habe ich erkannt, wie schön unsere Welt ist und dass ich diese Schönheit nie mehr genießen kann. Ich bin in dieser verdammten Dunkelheit für ewig gefangen!“
Anna ließ sich in einen Sessel fallen. Noch nie hatte sie in solch einer Klarheit und Offenheit zu ihm gesprochen. Tobias stand, von ihr abgewandt, vor der Balkontür und starrte mit leerem Blick hinaus. Er konnte sie nicht trösten, er war zu keinem Wort fähig.
„Doch halt. Pass‘ einmal genau auf. Wir machen ein Experiment. Nimm dir bitte eine Augenbinde, einen Schal oder sonst etwas und verbinde dir damit die Augen, sodass du nicht das Geringste sehen kannst. Diese Binde lässt du heute den ganzen Nachmittag um deine Augen. Danach reden wir weiter“, schlug Anna ihrem Freund vor.
Tobias sah keine Möglichkeit, diesen Vorschlag abzulehnen, wollte er Annas Vertrauen nicht einbüßen. Im Verbandskasten fand er zwei Augenklappen, die er sich über die Augen zog. Er konnte jetzt nicht mehr die Spur eines Lichtes wahrnehmen und war praktisch Anna gleichwertig.
„Okay, ich bin soweit“, sagte er unsicher.
„Gut. Jetzt versuche, den heutigen Nachmittag ganz normal zu leben, so wie immer. Nur mit dem Unterschied, dass du nichts siehst. Heute Abend reden wir.“
„Ganz normal den Nachmittag verbringen, so wie immer? Wie stellst du dir das vor? Wie soll das mit uns beiden funktionieren?“
„Ich stelle mir das nicht vor. Ich weiß wie das ist. Und du wirst das heute Abend mit Sicherheit ebenfalls wissen.“
Anfangs war er noch guten Mutes, obschon er sich bereits bei den ersten Schritten sein Knie an der Tischkante des Wohnzimmertisches stieß.
Anna saß währenddessen im Sessel und forderte ihn immer wieder zu den verschiedensten Tätigkeiten auf. Im Laufe des Experimentes zog sich Tobias mehrere blaue Flecken zu. Das war für ihn jedoch nicht das Schlimmste. Die totale Finsternis, die Desorientiertheit und das Gefühl der Hilflosigkeit waren wesentlich schlimmer.
Es dauerte nicht lange und er hob eine Augenklappe an, da er die Finsternis und den Zustand der totalen Behinderung nicht mehr ertragen konnte.
Ja, es muss schrecklich sein, was Anna durchmacht, dachte er. Er konnte jetzt in etwa einschätzen, was sie fühlte und weswegen sie so deprimiert war und ihr Leben als eine Qual ansah.
Nach wenigen Stunden nahm er sich die Augenklappen endgültig ab. Danach sprach er mit Anna noch lange über seine Erfahrung mit der Blindheit und lobte Annas Kraft, wie sie mit dieser Behinderung umging.
Dieser Selbstversuch war ein einschneidendes Erlebnis für ihn. Er hatte erlebt, wie Anna sich fühlen musste und war schockiert. Ab diesem Tag half er ihr noch tatkräftiger als vorher. Anstatt ihr Mut und Zuversicht zu geben, konnte er ihr aber nur Mitleid entgegenbringen. Das war jedoch die Zuneigung, die Anna gar nicht ertragen konnte. Immer öfter führte das zu Streitigkeiten.
Er litt mit ihr und war genauso depressiv wie sie. Morgens nach dem Erwachen und abends vor dem Einschlafen fragte er sich immer wieder, wie es mit ihnen weitergehen sollte.
Im Nachhinein betrachtet war das Experiment weder eine Hilfe für Anna, noch für Tobias gewesen.
Monate später zog Anna eine Psychologin zu Rate. Sie benötigte jemanden, der ihre Stärken unterstützte und ihre Schwächen ausmerzte. Ihr behandelnder Arzt hatte immer wieder auf sie eingeredet, diesen Schritt zu gehen. Glücklicherweise fand sie eine Psychologin, die durch ihr einfühlsames Wesen Zugang zu ihrer Seele bekam. Im Laufe der Behandlung wurde aus ihrer Beziehung eine innige Freundschaft. Es dauerte trotzdem fast ein Jahr, bis Anna ihre Behinderung akzeptierte und einen Weg in eine positive Zukunft sah.
„Was soll‘s. Machen wir das Beste daraus“, sagte sie eines Tages zu Tobias.
Sie begann, systematisch ihre häusliche Umwelt strategisch zu erforschen. Tobias war total überrascht und schaute sie verständnislos an.
„Wie meinst du das?“, fragte er.
„Du wirst nicht mehr mein sehendes Auge sein und jeden Handgriff für mich machen. Ich werde selbst für mich sorgen. Ich muss versuchen, auf eigenen Füßen zu stehen.“
„Was soll das? Hat dir das diese Psychologin eingeredet?“, fragte er abfällig.
„Nein, das ist meine Entscheidung. Nur wenn mir das gelingt, ist mein Leben weiterhin lebenswert.“
Beide vereinbarten, dass kein Teil in der Wohnung verrückt oder entfernt werden durfte. Auch kleine Teile, wie eine Vase oder die Fernbedienung der Stereoanlage, sollten ihren festen Platz haben. Nur so war es möglich, dass Anna sich in der Wohnung orientieren konnte.
Täglich trainierte sie, wie sie im Alltagsleben ihre Selbstständigkeit zurückgewinnen konnte. Ebenso musste sie alle lebenspraktischen Fähigkeiten wie Kochen, Putzen, die Bedienung der Elektrogeräte und vieles mehr neu erlernen.
Das Erleben ganz neuer Sinneseindrücke und das Schärfen der verbliebenen Sinne, musste ebenfalls immer wieder trainiert werden. Eine hierfür ausgebildete Rehabilitationstrainerin half ihr an drei Tagen in der Woche dabei. Wenn ihr Freund zur Uni fuhr und sie allein war, legte sie zusätzliche Trainingseinheiten ein.
Tobias bemerkte natürlich den stetigen Fortschritt. Einerseits freute er sich darüber, anderseits machte er sich Gedanken – Gedanken über sich. Wurde er doch mehr und mehr entbehrlich. Er war sich nicht im Klaren, ob er das wollte.
Nach fast einem halben Jahr war sie in der Lage, sich alleine in der Wohnung zurechtzufinden und die täglichen Arbeiten und Bedürfnisse alleine zu bewältigen.
Anna lag bereits im Bett, als Tobias zu ihr unter die Decke schlüpfte. Sie wandte ihm den Rücken zu.
„Schläfst du schon?“, fragte er leise.
„Nein, ich denke nach“, antwortete Anna und drehte sich zu ihm um.
Normalerweise trug Anna tagsüber immer eine tiefschwarze Sonnenbrille und im Bett eine Augenbinde. Es wäre ihr peinlich, wenn Menschen und besonders ihr Freund ihre Augen sehen würden. Heute Abend war sie verstimmt und nach längerer Zeit beschäftigten sie wieder einmal depressive Gedanken. Dabei hatte sie vergessen, ihre Augenbinde umzubinden.
Zwei ausdruckslose, trübe Augen starrten Tobias an. Er erschrak. Gerade ihre ausdrucksvollen Augen, die die Farbe des hellblauen Himmels hatten, liebte Tobias so sehr an ihr. Nichts davon war geblieben. Er war entsetzt.
„Gute Nacht. Mach dir keine Gedanken. Versuche zu schlafen“, war alles, was er ihr mit erstickter Stimme sagen konnte.
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