Es ist ein schöner Spätsommermorgen. Der Sommer zieht noch einmal alle Register, bevor er sich abmeldet und es wird noch einige Zeit dauern, bis der Herbst das Regiment übernimmt. Die Sonne scheint von einem fast wolkenlosen Himmel. Das Laubwerk der hohen, alten Bäume taucht den Waldweg in einen angenehmen Schatten. In kurzer Entfernung vom Weg schnattern Enten auf einem Teich um die Wette. Am gegenüberliegenden Ufer ist der Teich großflächig mit Seerosen bedeckt. Im ufernahen Flachwasser steht ein Graureiher und wartet bewegungslos auf Beute.
Obschon es noch sehr früh ist, spielen einige Kinder am flachen Seeufer und die Mütter sitzen auf einer der einfachen Bänke und unterhalten sich. Insgesamt wirkt der Ort friedlich und harmonisch. Am Wochenende wird er von vielen Menschen aufgesucht. Jung und Alt, Familien mit Kindern, Spaziergänger, Radfahrer und Jogger suchen in diesem Teil des Waldes Entspannung und Erholung vom Alltag. An einem Montagmorgen wie heute, wird der See nicht stark besucht.
Seit diesem Sommer nutzt Anna die frühe, morgendliche Frische oft für einen Spaziergang zum See. An sonnigen Tagen verweilt sie gerne einige Zeit auf einer der rückenlosen Bänke. Das ist auch heute ihre Absicht. Ihr weißer Teleskopstock mit einer Kugel am Ende kratzt über den festen Boden des Waldweges. Sie weiß, nach exakt noch neun Schritten befindet sich auf der linken Seite eine Bank. Manchmal kommt es vor, dass die Bank besetzt ist. Dann verzichtet sie auf die kurze Rast und schlägt direkt den Rückweg ein. Heute ist ihr der Spaziergang schwergefallen und sie hofft daher, dass sie eine freie Bank vorfindet.
Sie tastet mit dem Stock im weiten Bogen vor sich den Weg ab. Nach ihrer Einschätzung muss sich die Bank in unmittelbarer Nähe befinden.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt eine freundliche Frauenstimme.
„Ja, gerne. Ich suche eine freie Bank. Heute fällt es mir etwas schwerer, sie zu finden. Ich möchte mich etwas ausruhen und dann den Rückweg antreten.“
„Kommen Sie, ich führe Sie hin. Sie stehen fast davor.“
Die Frau fasst Anna vorsichtig am Arm und leitet sie etwas nach links. Nach wenigen Schritten schlägt Annas Stock gegen die Holzbalken der Bank.
„Hier können Sie sich setzen. Wir sitzen auf der Bank auf der gegenüberliegenden Seite des Weges. Wenn Sie Hilfe benötigen, rufen Sie einfach. Die Kinder spielen am Wasser.“
„Vielen Dank. Aber ich komme schon zurecht.“
Anna bleibt noch einen Augenblick stehen, bevor sie sich hinsetzt. Sie legt den Kopf in den Nacken und lässt den seichten Wind über ihr Gesicht streichen. In diesem Augenblick ist sie ganz bei sich. Sie spürt das Herz in ihrer Brust schlagen. Es tut ihr gut, aus dem Haus herauszukommen und die Natur zu erleben.
Anna setzt sich hin und atmet erleichtert aus. Sie genießt die wenigen, warmen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterwerk der Bäume bis zu ihr durchdringen.
Es ist schön, dabei den freudigen Stimmen der Kinder und dem Schnattern der Enten zu lauschen. Das Schnattern wechselt sich hin und wieder mit dem Gurren einer Taube ab. Annas Gehirn produziert aus der Erinnerung das Bild einer Taube mit ihren starren, ausdruckslosen Augen ohne Wimpernschlag. Anna erinnert sich an den Ausspruch: Die Augen sind der Spiegel der Seele . Sind diese leblos wirkenden Augen ein Indiz dafür, dass Tauben keine Seele besitzen? Annas Augen sind ebenfalls leblos und ausdruckslos, die keinen Lichtstrahl und kein Bild mehr aufnehmen. Hat auch sie keine Seele mehr? Hat sie mit dem Verlust des Augenlichts ihre Seele verloren?
Sie kann den Gedanken nicht zu Ende denken. Eine Stimme lässt sie hochschrecken. Vielleicht ist das auch gut so.
„Wir wollen gehen. Möchten Sie uns bis zum Parkplatz begleiten? Das ist bestimmt einfacher für Sie, als allein durch den Wald zu gehen. Man stolpert doch leicht über eine Wurzel oder über einen Stein“, spricht die Frau von vorhin sie an.
Anna muss sich sammeln, bevor sie antwortet.
„Das ist nett von Ihnen. Aber ich möchte noch etwas hierbleiben. Ich gehe fast jeden Tag den Weg und werde schon aufpassen. Vielen Dank.“
„Dann noch einen schönen Tag und vielleicht bis ein anderes Mal.“
„Ja, Ihnen auch einen schönen Tag.“
Anna vernimmt, wie die Kinder und mehrere Frauen sich entfernen.
Sie ist jetzt allein und kann die Stille und die Geräusche der Natur um sie herum genießen.
Die Ruhe und Idylle wird nur gestört, wenn ein Flugzeug tief über den Baumwipfeln den See überquert und zur Landung auf dem nahen Köln-Bonner Flughafen ansetzt.
Anna hört nicht nur das Dröhnen der Triebwerke, sie stellt sich dann auch das Bild des Flugzeuges am wolkenlosen, blauen Himmel vor. Sie kennt das aus früheren Zeiten.
Sehen kann sie das seit ihrem Autounfall von vor mehr als zwei Jahren nicht mehr.
Sie ist vollständig blind!
Nach dem fürchterlichen Unfall im Juli vor zwei Jahren auf der Autobahn in Frankreich musste Anna noch an der Unfallstelle von den Rettungssanitätern reanimiert werden. Ein Hubschrauber brachte sie ins nächste Unfallkrankenhaus, wo nochmals eine Reanimation erforderlich war. Sie hatte lebensgefährliche Verletzungen. Der stark alkoholisierte Geisterfahrer, mit dem sie frontal zusammengestoßen waren, wurde tödlich verletzt und verstarb noch an der Unfallstelle. Ihr Freund Tobias hatte Glück im Unglück. Er kam mit einigen Rippenbrüchen, einem Armbruch sowie mit starken Prellungen davon. Verhältnismäßig schnell war seine Gesundheit wiederhergestellt.
Bei Anna stellte man im Krankenhaus schwerste Schädelverletzungen und Gehirnblutungen fest. Es stand lange auf des Messers Schneide, ob sie überhaupt überleben würde und falls, wie würde dieses Überleben aussehen? Nach mehreren Operationen verbrachte sie lange Zeit auf der Intensivstation im künstlichen Koma.
Als sie erwachte, verlegte man sie in eine Spezialklinik für Augenheilkunde. Nach gründlichen Untersuchungen dann der Schock: Die Ärzte eröffneten ihr, dass eine Wiederherstellung ihres Augenlichtes nicht mehr möglich sei. Sie sei auf beiden Augen irreversibel erblindet. Bei dem Unfall waren mehrere Risse im Knochen bei den Sehnerven beider Augen aufgetreten. Bei der Heilung entstanden Verdickungen am Knochen, die die Sehnerven abdrückten.
Obschon beide Augen medizinisch gesund waren, würde sie für den Rest ihres Lebens blind sein. Rest ihres Lebens? Anna konnte und wollte die Aussage der Ärzte nicht verstehen. Sie war doch noch so jung und der größte Teil ihres Lebens sollte doch noch vor ihr liegen.
Eine niederschmetternde, hoffnungslose Prognose für sie.
Das Auge ist für viele Menschen das wichtigste Sinnesorgan. In der heute in einem riesigen Maße visuell ausgerichteten Welt, werden wahrscheinlich mehr als zwei Drittel der Informationen durch das Sehen aufgenommen. Mit der Tatsache, künftig auf viele Informationen verzichten zu müssen und die Menschen und ihre Umgebung für den Rest ihres Lebens nur noch durch Ertasten oder durch Geräusche wahrnehmen zu können, konnte sie sich nicht abfinden.
Täglich haderte sie mit ihrem Schicksal. Weinkrämpfe erschütterten sie und wechselten sich mit depressiver Niedergeschlagenheit ab. Immer wieder fragte sie sich, wie sie weiterleben soll – und ob sie überhaupt in diesem Zustand weiterleben kann.
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