Schnell drehte er ihr den Rücken zu und stellte sich nach kurzer Zeit schlafend. Tatsächlich konnte er lange nicht einschlafen. Er dachte über Anna, vor allem aber über sich selbst nach. Was war von seiner Liebe geblieben?
Als nächsten Schritt plante Anna, sich in der näheren Umgebung außerhalb ihrer Wohnung zu bewegen. Sie wohnte in einem der eng aneinandergereihten kleinen Reihenhäuser, der sogenannten Maikammersiedlung in Troisdorf. Die Häuser entstanden in den 1950er Jahren als Zwecksiedlung für die belgischen Soldaten. Nach dem Abzug der Streitkräfte wurden die Häuser seit 2002 nach und nach öffentlich zum Kauf angeboten. Annas Eltern kauften seinerzeit ein Haus, das sie nach einer aufwändigen Sanierung nur wenige Jahre bewohnten. Aus beruflichen Gründen zogen die Eltern nach Regensburg und Anna blieb allein in dem Haus wohnen.
Anna liebte das kleine Haus und sie schätzte die Nähe zur City und die nur wenige hundert Meter entfernte Wahner Heide.
Die ersten Schritte ging sie zusammen mit ihrer Rehabilitationstrainerin in Richtung Agger-Stadion, das direkt am Rand der Wahner Heide lag.
Sie prägte sich jede Besonderheit des Weges, jeden Bordstein, jeden Stein ein. Sie zählte die Schritte bis zum nächsten Bordstein, bis zur Straßenlaterne oder bis zum Straßenschild. Mit der Zeit bildete sich in ihrem Kopf ein imaginäres Bild der Umgebung, in dem sie sich immer besser zurecht fand.
Anfangs begleitete Tobias sie auf ihren Wegen. Je besser sie mit der Welt außerhalb des Hauses zurechtkam, je weniger musste sie Tobias‘ Hilfe annehmen. Ihm kam das gelegen. Die gleiche Energie aufzubringen, wie Anna sie aufbrachte, war ihm nicht möglich. Er hatte eine andere Wesensart. Er suchte immer den einfachen, den bequemen Weg. Die Blindheit seiner Freundin und die damit verbundenen Belastungen und unsicheren Zukunftsaussichten waren eine Bürde für ihn. Diese Last wollte er und konnte er nicht mehr ertragen.
Immer öfter traf er sich mit einer Kommilitonin. Ihr hatte er sich mit seinen Problemen anvertraut. Anfangs suchte er nur das Gespräch mit ihr. Mit der Zeit wurde mehr daraus und er genoss das unbeschwerte Zusammensein mit ihr.
Die Kluft zu Anna wurde immer größer und es war nur eine Frage der Zeit, bis er Anna den entstandenen Bruch nicht mehr verheimlichen konnte.
Anna hatte währenddessen ihren Weg zur unabhängigen Selbstständigkeit immer weiter intensiviert.
Unausweichlich kam dann der Tag, der Annas Pläne jäh beendete und ihre Psyche bis ins Mark traf – Tobias trennte sich von ihr.
„Ich kann nicht mehr. Das Leben mit dir macht mich kaputt“, eröffnete er ihr eines Tages während des Frühstücks.
Anna traf diese Aussage am frühen Morgen völlig unvorbereitet. Ein Schock war es dennoch nicht. Dafür kam die Aussage ihres Freundes nicht überraschend genug. Seit einiger Zeit hatte sie damit gerechnet, obschon sie die Möglichkeit immer weit von sich geschoben hatte. Bei gemeinsamen Autofahrten hatte sie im Wageninneren einen ihr unbekannten Duft wahrgenommen. Mit Fragen hatte sie ihren Freund nicht konfrontiert – sie hatte Angst vor der Wahrheit und vor der Antwort, die er ihr geben würde.
„Gib es doch zu. Du hast eine andere Frau. Ich kann sogar verstehen, dass du dein Leben nicht mit einer blinden Frau und deren Problemen verbringen willst“, antwortete Anna resignierend.
„Ja, aber versteh‘ doch …“, begann Tobias den Versuch einer Erklärung.
„Geh nur, ich komme auch ohne dich zurecht“, unterbrach ihn Anna, drehte sich um und verließ, so schnell es ihre Blindheit erlaubte, die Küche.
Schnell, viel zu schnell, so dass Anna keine Chance mehr hatte, ihn vielleicht doch noch zum Bleiben zu überreden, packte er seine wenigen Sachen und Kleidungsstücke sowie sein Fernsehgerät und verschwand noch am gleichen Morgen.
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, hörte Anna, wie sich der bekannte Klang seines Wagens entfernte – für immer.
„Verflucht“, war das einzige Wort, das sie hervorbrachte.
Dann sank sie völlig erschöpft und deprimiert auf ihr Bett. Von stundenlangen Weinkrämpfen geschüttelt, überkam sie der Schlaf wie eine schützende Decke.
Wenn sie sich am nächsten Morgen im Spiegel hätte sehen können, hätte sie sich mit Sicherheit fürchterlich erschrocken. Blass, rot verquollene Augen – ein jammervoller Anblick. Aber zum Glück konnte sie sich nicht im Spiegel betrachten.
Sie blieb den ganzen Tag im Bett – und auch den nächsten. Tränen hatte sie keine mehr. Ihre Nahrung bestand hauptsächlich aus einigen Joghurts, womit sie ihren Körper nicht gerade verwöhnte und stärkte. Auch erfreute sich ihre Haut nicht über Wasser und Seife. Ihre Flüssigkeitsaufnahme bestand hauptsächlich aus Rotwein. Der Alkohol ließ sie willenlos vor sich hindämmern. Tag und Nacht waren für sie gleich. Einen tiefen und festen Schlaf fand sie nicht. Wenn sie dann einmal für kurze Zeit einschlief, plagten sie Albträume.
Anna versteckte sich vor sich selbst. Sie fühlte sich als ein Nichts in dieser Welt und von keinem geliebt.
Nachdem ihre Vorräte an Rotwein aufgebraucht waren, nahm ihr Verstand langsam wieder seine normale Tätigkeit auf.
Nach der schlaflosen Nacht zum dritten Tag beschloss sie, ihr Schicksal wieder in die Hand zu nehmen. Und das sofort.
Als Erstes öffnete sie alle Fenster. Sie genoss es, wie die verbrauchte, übel riechende Luft aus den Räumen entwich. Die frische Luft wehte ihr um die Nase und hauchte ihr neues Lebenselixier ein. Dann begann sie, ihre Wohnung abzutasten und alle leeren Flaschen, Becher und sonstigen Unrat aufzusammeln.
Im Küchenschrank fand sie einige Happen altes Brot, die sie mit Heißhunger verschlang. Dazu trank sie mehrere Tassen starken Kaffee.
Ihre sprechende Blindenuhr sagte ihr, dass es 8:30 Uhr war. Sie setzte sich ins Wohnzimmer und nahm ihr Telefon zur Hand. Ihre Eltern anrufen, die in Regensburg über fünfhundert Kilometer entfernt lebten, wollte sie nicht. Ihre Mutter oder sogar beide Elternteile würden sicherlich sofort kommen, wenn sie ihnen erzählen würde, dass Tobias sie verlassen hatte und sie jetzt allein war. Aber in ihrem jetzigen Zustand sollten sie ihre Tochter nicht sehen. Ihr Vater würde sicherlich ihr ganzes Leben und ihre Zukunft an sich reißen. Auf Jahre hinaus hätte sie keinen eigenen Willen mehr. Nein, das war keine Option. Sie wollte selbst ihr Leben neu ordnen. Dazu benötigte sie professionelle Hilfe.
Daher rief sie als Erstes ihre Freundin, die Psychologin, an, die sie am Nachmittag sofort aufsuchte. Gemeinsam überlegten sie, welche Schritte es als nächstes zu tun galt.
Die Psychologin wusste, wo sie bei Anna ansetzen musste. Durch viele, und zum Teil lange Gespräche in den folgenden Wochen, gelang es ihr, Annas depressiven Zustand in verhaltenen Optimismus zu ändern. Auch ihre Lebens- und Versagensängste ließen nach. Annas psychischer Zustand verbesserte sich immer mehr.
Jetzt war die Zeit gekommen, durch weitere professionelle Hilfe diesen Aufwärtstrend zu untermauern. Dazu benötigte sie Zeit – Zeit für sich selbst. Wenn sie andere über Zeitnot reden hörte, fühlte sie sich wie im falschen Film. Seit Tobias sie verlassen hatte, hatte sie mehr Zeit, als ihr lieb war. Sie war fest entschlossen, diese Zeit zu nutzen. Sie wollte nicht nur am Leben teilhaben, sie wollte ihr Leben gestalten und genießen. Trotz oder gerade wegen ihrer Behinderung.
Glücklicherweise hatte sie durch die Zahlungen der Versicherungen die hierzu notwendigen finanziellen Möglichkeiten. Über karitative Einrichtungen regelte sie die täglichen Arbeiten, wie Säubern der Wohnung, Besorgungen erledigen und Waschen der Wäsche.
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