Präoperativ waren ihre verbalen und figuralen Gedächtnisleistungen vor dem Hintergrund regelrechter exekutiver und attentionaler Leistungen normal (
Abb. 1.2). Im Verbalen Lern- und Aufmerksamkeitstest (VLMT) lernte sie in den fünf ersten Lerndurchgängen zuletzt 15/15 Wörtern. Nach Interferenz konnte sie 14 Wörter korrekt reproduzieren; sie erkannte 15/15 korrekt aus einer Auswahlliste wieder, ohne neue Wörter fälschlicherweise als schon bekannt zu bezeichnen. Im Diagnostikum für Cerebralschädigung (DCS), bei dem man neun abstrakte Muster mit Stäbchen aus dem Gedächtnis nachlegen muss, erbrachte sie über die geforderten fünf Durchgänge ebenfalls eine durchschnittliche Leistung. Zwei Jahre postoperativ waren ihre Leistungen in beiden Tests schlechter als präoperativ. Im VLMT war die Lernleistung (Durchgänge 1–5) noch normgerecht, und die Verschlechterung lag unterhalb der Grenze einer signifikanten Änderung, bestimmt nach dem Reliable Change Index gemäß den Testnormen des VLMT (Helmstaedter et al. 2001). Allerdings waren der freie Abruf (Durchgang 7) und die Rekognitionsleistung signifikant verschlechtert, lagen aber im noch durchschnittlichen Bereich. Die Leistung im DCS war postoperativ noch durchschnittlich, die Verschlechterung war aber nicht signifikant (Weidlich und Lamberti 2001). In der Selbstwahrnehmung der Patientin war ihre Gedächtnisleistung unverändert.
Abb. 1.1: Prächirurgische Diagnostik bei der Patientin des Fallbeispiels 1.1. (A) koronare Fluid-Attenuated-Inversion-Recovery-Magnetresonanztomografie (FLAIR-MRT); weißer/linker Pfeil: verkleinerter und signalangehobener Hippokampus, also Hippokampussklerose; rechter/grauer Pfeil: mutmaßlich niedriggradiger Tumor. (B) axiale FLAIR-MRT, Pfeilbedeutung wie in A. (C) Ausschnitte aus dem interiktualen EEG, sphenoidaler Ring mit doppelten Längsreihen (siehe E). Die Pfeile verweisen auf die Phasenumkehr der Spikes rechts temporomedial/ -anterior. (D) Iktuales EEG, Verschaltung wie in C. Der Anfall beginnt dort, wo auch die Spikes generiert wurden. (E) Verschaltung der EEG in C und D. Die Elektrodenpositionen sind nach den Vorgaben der American Electroencephalograhic Society benannt, was eine Folge der früheren engen Bindung der prächirurgischen Station im Epilepsie-Zentrum Mara an die Cleveland Clinic, USA, ist. (F) Funktionelle Sprach-MRT, die eine Linksdominanz der Patientin ausweist (Mehrdurchblutung im Broca-Areal bei stiller Bildung von Wörtern im Vergleich zu einer Ruhebedingung,
Kap. 6.3). (G, H) Koronare und axiale T1-MRT nach anteromedialer Temporallappenteilresektion.

Abb. 1.2: Gedächtnisleistung der Patientin des Fallbeispiel 1.1 prä- und postoperativ. Links: Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest: »d1–d7« bezeichnen die Lerndurchgänge (d1–d5) und den verzögerten freien Abruf (d7); Recog bezeichnet die Wiedererkennensleistung. Postoperativ sind die Leistungen bei d7 und Recog »noch durchschnittlich« (offene Symbole) und signifikant schlechter als präoperativ. Rechts: Figuralgedächtnistest Diagnostikum für Cerebralschädigung. Die postoperative Perfomanz war »noch durchschnittlich« (offene Symbole), aber nicht signifikant verschlechtert.
Das Wichtigste im Überblick
• Die Standardelemente jeder prächirurgischen Diagnostik sind:
– Anamnese der Vorgeschichte und der Anfallssemiologie
– Hirn-MRT
– Langzeit-Video-EEG zur Aufzeichnung des interiktualen EEG und von Anfällen mit Video und EEG
– Neuropsychologische Testung
• Wenn die Befunde dieser Untersuchungen kongruent sind und kein erhöhtes Risiko durch eine Resektion der mutmaßlichen epileptogenen Zone besteht, kann ohne weitere Diagnostik eine Operation durchgeführt werden.
• Eine postoperative Anschlussheilbehandlung trägt zu einem guten Outcome bei.
• Bei Anfallsfreiheit, wunschgemäßer Resektion und guter Prognose kann nach 1–2 Jahren die antikonvulsive Medikation beendet werden, wenn der Patient dies möchte.
1.1 Wege bis zur prächirurgischen Diagnostik
Immer wieder kommen Patienten erst Jahre nachdem klar wurde, dass sie pharmakoresistent sind, in ein Zentrum, das auch prächirurgische Diagnostik anbietet. Die Gründe sind vielfältig (
Tab. 2.1); dazu gehören falsche Beratung ebenso wie diffuse Ängste bezüglich eines epilepsiechirurgischen Eingriffs. Manchmal bringt erst eine subjektiv empfundene Verschlimmerung die Patienten dazu, diesen Schritt zu gehen (
Fallbeispiel 1.1).
1.2 Prinzipien der prächirurgischen Diagnostik und der resektiven Epilepsiechirurgie
Resektive Epilepsiechirurgie hat das Ziel, Anfallskontrolle zu erreichen. Mit anderen Worten: Wir streben dauerhafte und vollständige Anfallsfreiheit an (nicht notwendigerweise ohne Antiepileptika). Eine Voraussetzung dafür ist, in der prächirurgischen Diagnostik möglichst überlappende, d. h. kongruente Befunde hinsichtlich der Anfallssemiologie, der interiktualen und iktualen EEG-Befunde und einer potenziell epileptogenen, in der zerebralen Bildgebung nachgewiesenen Hirnläsion – mit Einschränkungen auch: bezüglich der neuropsychologisch dokumentierten Teilleistungsstörungen. Ein formeller Konsens, wie konkurrierende Befunde zu wichten sind, existiert nicht. Studien, die die Präzision der traditionellen Methodenkombination untersuchen würden, sind aus vielen Gründen praktisch nicht vorstellbar.
Ein Versuch, unzureichende oder widersprüchliche Befunde der herkömmlichen Methoden aufzulösen, besteht darin, weitere Untersuchungsmodalitäten hinzuzunehmen, wie
• Positronenemissionstomografie (PET)
• Single-Photon-Emission-Computed Tomography (SPECT), iktual und interiktual
• Quellenlokalsation mittels EEG oder Magnetenzephalografie.
Der Zusatznutzen dieser Verfahren ist durch Studien, die »im laufenden Betrieb« entstehen und oft Surrogatmarker verwenden, schwer abzuschätzen, u. a. deshalb, weil weder die Güte der Auswertung der traditionellen diagnostischen Methoden noch der Grund für spätere OP-Entscheidungen verlässlich zu kontrollieren sind (Burch et al. 2012; Jones und Cascino 2016). Prospektive randomisierte Studien dürften nur ausnahmsweise durchführbar sein. Diese Verfahren werden in Bethel nur selten eingesetzt und im vorliegenden Buch daher nicht weiter abgehandelt. Wir setzen als weiterführende Maßnahmen bei schwierigeren Fragestellungen den Wada-Test ein und implantieren intrakranielle Elektroden (
Kap. 3).
Kongruente Befunde von Semiologie, MRT, EEG (und Neuropsychologie). 
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