Tab. 2.1: Häufige falsche Annnahmen zur Epilepsiechirurgie (modifiziert und ergänzt nach Vakharia et al. 2018).
FalschRichtig
FalschRichtig
2.1 Wann sollten Patienten zugewiesen werden?
Spätestens nach zweijähriger erfolgloser Behandlung sollte der Patient einem prächirurgisch tätigen Zentrum zur Evaluation der Operationsmöglichkeit zugewiesen werden. 
Sobald sich ein Patient als therapieresistent erweist, soll dieser – spätestens nach zwei Jahren – einem chirurgisch tätigen Epilepsiezentrum zugewiesen werden (Elger et al. 2017), und dies sollte im Behandlungsverlauf wiederholt und in den Behandlungsunterlagen dokumentiert werden (Fountain et al. 2015). Angesichts dieser Leitlinien kann eine verzögerte Zuweisung juristische Folgen in Form hoher Entschädigungszahlungen haben, zum Beispiel bei jungen Patienten, die wegen ihrer Epilepsie keine Ausbildung machen konnten (Fallbeispiel in: Schulz und Bien 2018). Das Zentrum muss nicht jeden Patienten sofort einem vollen prächirurgischen Monitoring mit Anfallsaufzeichnung unterziehen. Es können auch zunächst weniger weitreichende Untersuchungen (ambulant oder stationär ohne medikamentöse Abdosierung) erfolgen. Dies eröffnet den dort tätigen, spezialisierten Ärzten die Möglichkeit, den Patienten weitergehend aufzuklären. Eine solche – wenn auch vorläufige – Untersuchung erlaubt es, die Erfolgsaussichten eines Monitorings im Hinblick auf eine erfolgreiche Operation abzuschätzen. Diese Information kann von dem Patienten als Teil einer stufenweisen Aufklärung bei seiner Entscheidung für oder gegen ein Monitoring mit Anfallsprovokation und eventuell eine epilepsiechirurgische Operation genutzt werden. Die Kandidatenselektion für eine prächirurgische Diagnostik ist oft ein mehrphasiger Prozess.
2.2 Wo soll das nicht-invasive Video-EEG-Monitoring erfolgen?
Prächirurgische Diagnostik sollte in einem epilepsiechirurgisch zertifizierten Zentrum erfolgen. 
Ein für für Epilepsiechirurgie zertifiziertes Zentrum (Deutsche Gesellschaft für Epileptologie 2010) sollte diese Diagnostik und Beratung durchführen (Rosenow et al. 2016). Die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie informiert über die entsprechend zertifizierten Zentren (Deutsche Gesellschaft für Epileptologie 2020). Solche Zentren müssen nach Empfehlung der Arbeitsgemeinschaft österreichischer, deutscher und schweizerischer epilepsiechirurgisch tätiger Zentren (Rosenow et al. 2016) mindestens 25 epilepsiechirurgische Eingriffe pro Jahr durchführen (Schweiz: mindestens 20). Diese Zahl rechtfertigt sich dadurch, dass der jeweilige Operateur eine Vielzahl verschiedener operativer Zugänge und das prächirurgische Team die ganze Bandbreite diagnostischer Möglichkeiten beherrschen müssen. Ein Zentrum, das sich an diese Empfehlungen hält, muss ausreichendes pflegerisches und medizinisch-technisches Personal mit Überwachung der abdosierten Patienten rund um die Uhr vorhalten, mit Ableitemöglichkeit auch am Wochenende und der Möglichkeit zur invasiven Diagnostik. Als Zusatzdiagnostik stehen zur Verfügung: MRT mit ausgeprägter diagnostischer Expertise, funktionelles MRT, Postprocessing der MRT-Daten, fortgeschrittene Formen der EEG-Analyse (wie electric or magnetic source imaging), Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT), Positronenemissionstomografie (PET), Magnetenzephalografie (MEG). Die ganze Fülle diagnostischer Möglichkeiten wird nicht immer vorhanden sein. Jedes Zentrum hat unterschiedliche Schwerpunkte für die einzelnen Methoden.
Wichtig sind für chirurgisch tätige Epilepsiezentren auch eine Epilepsieambulanz und die Möglichkeit zur stationären Behandlung mit konservativen Inhalten, also zur medikamentösen Umstellung für ambulant therapierefraktäre Patienten oder mit spezifischen Angeboten für Patienten mit psychischen bzw. psychosomatischen Problemen sowie der Zugang zu einer Rehabilitationsklinik mit epileptologischer Expertise. Auf der Seite der Zuweiser haben sich in Deutschland Netzwerke von Kliniken und Kontakte zu niedergelassenen Neurologen mit epileptologischen Interessen und der daraus gewachsenen Erfahrung ausgebildet. Teils gibt es regionale Fallkonferenzen, z. B. in Bethel für Nord-West-Deutschland. Es lohnt sich, Anschluss an entsprechende Netzwerke zu finden.
Bei der chronischen Krankheit der Epilepsie spielen der Begriff und das Vorhalten von »comprehensive care« weiterhin eine Rolle (Pfäfflin et al. 2001). Ein multidisziplinäres Vorgehen ist in der Phase der Diagnostik und nach der Operation unverzichtbar.
Hintergrundinformationen 2
Welche Patienten sollen für ein Video-EEG-Monitoring zugewiesen werden?
Das primäre Kriterium für eine Einweisung zur weiteren Diagnostik ist die medikamentöse Therapieresistenz, definiert als fehlende Anfallsfreiheit nach zwei adäquaten medikamentösen Versuchen der Anfallskontrolle, jeweils mit gut tolerierten und entsprechend der Epilepsie ausgewählten antiepileptischen Medikamenten, entweder in Monotherapie oder in Kombination (Kwan et al. 2010). Eine Aufdosierung bis zur Nebenwirkungsgrenze ist nicht erforderlich. Bei einer allergischen Nebenwirkung bei geringer Dosierung gilt die betreffende Substanz nicht als adäquat dosiert und zählt daher nicht mit. Bei Kombinationstherapien zählt jede einzelne Substanz. Also würde zum Beispiel eine Anfallsfrequenz von 1–2 Anfällen mit Bewusstseinstrübung im Jahr bei einer Medikation von 200–300 mg/Tag Lacosamid in Kombination mit 2.000 mg/Tag Levetiracetam das Kriterium der medikamentösen Therapieresistenz erfüllen. Das in diesem Kapitel geschilderte Fallbeispiel erfüllt diese Kriterien bezüglich der vorangegangenen Medikamente.
Leider wird nur ein kleiner Teil von Patienten, die davon profitieren könnten, einem erfahrenen Zentrum zugewiesen. Hierzu tragen – oft unberechtigte und unausgesprochene – Vorbehalte ambulant tätiger Ärzte, aber auch der Patienten selbst bei (Steinbrenner et al. 2019). Die Forderung, therapieresistente Patienten in ein Zentrum einzuweisen, umfasst im weiteren Sinne auch Patienten, bei denen eine fokale Epilepsie (noch) nicht sicher diagnostiziert worden ist. Zum Beispiel kommt es vor, dass ambulant eine idiopathische generalisierte Epilepsie aufgrund der Anfallssemiologie vermutet wird, sich stationär aber herausstellt, dass es sich um eine fokale Epilepsie handelt (z. B. juvenile myoklonische Epilepsie versus fokale Epilepsie mit myoklonischen und tonischen Anfällen durch eine epileptogene Region mit Propagation in die supplementäre sensomotorische Region parasagittal fronto-zentral). Der geschilderte Fall veranschaulicht diese Situation: Bis zur invasiven Diagnostik war nicht abschließend klar, ob der Patient tatsächlich epileptische Anfälle hatte.
Auch das Vorhandensein einer Läsion im MRT ist für die Frage der stationären Diagnostik nicht entscheidend, da im MRT sichtbare Läsionen sich teils als nicht epileptogen herausstellen und andererseits trotz extern als negativ befundeten MRTs eine erneute Untersuchung mit speziellen Sequenzen, Schichtungen und post-processing der Daten doch verlässliche Läsionen bzw. zumindest Hypothesen für eine Diagnostik ergeben kann (von Oertzen et al. 2002).
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