Auch Patienten mit weniger häufigen Anfällen kommen für eine prächirurgische Diagnostik in Betracht. 
»Hohe Anfallsfrequenz« ist ebenfalls für die Zuweisung kein notwendiges Kriterium. »Seltene« Anfälle mit Bewusstseinstrübung für 1–2 Minuten mögen zwar aus der Sicht des betreuenden Arztes als tolerabel erscheinen, haben jedoch erhebliche Konsequenzen für die soziale Entwicklung im beruflichen und persönlichen Umfeld, möglicherweise verstärkt durch langjährigen Antiepileptika-Gebrauch und Antiepileptika-Nebenwirkungen sowie durch neuropsychologische und psychiatrische Auffälligkeiten. Der Beispielfall in diesem Kapitel erfüllt dieses Kriterium im engen Sinne nicht, da keine Bewusstseinstrübung vorlag. Andererseits waren die Auren und auch die Auren mit Sprachstörung belastend. Oft kann der Frage einer Bewusstseinstrübung erst im Monitoring geklärt werden, zum Beispiel bei Automatismen mit erhaltener Reaktivität bei Epilepsie des nicht-dominanten Temporallappens (Ebner et al. 1995).
Eine »dramatische« Semiologie kann Ausdruck psychogen-dissoziativer Anfälle sein; auch hier ist die Diagnostik wichtig, um ein psychotherapeutisches Angebot, ggf. stationär in einer spezialisierten Abteilung, zu initiieren. Eine »dramatische« Semiologie kann aber auch Ausdruck hyperkinetischer Anfälle mit heftigen stammnahen Körperbewegungen sein, zum Beispiel bei einer fokalen kortikalen Dysplasie im Frontallappen (Gibbs et al. 2019).
Auch Patienten mit einer Intelligenzminderung profitieren von einer prächirurgischen Diagnostik. 
Patienten mit Intelligenzminderung haben oft eine ausgedehnte Hirnschädigung oder ein funktionelles Defizit an strategischen Hirnarealen. Viele Patienten mit niedrigem IQ profitieren dennoch von einem epilepsiechirurgischen Eingriff. Nach zwei Jahren waren die folgenden Anteile operierter Patienten anfallsfrei: bei einem IQ von < 50: 22 %; bei IQ 50–69: 37 %; bei IQ > 70: 61 % (Malmgren et al 2008). Anfälle in hoher Frequenz oder mit Sturz und Verletzungen sind sicher bevorzugt ein Grund, in einem Epilepsiezentrum diagnostische und therapeutische Hilfe zu bekommen. Operativ kann bei Sturzanfällen bei einem Teil der Patienten eine Kallosotomie angeboten werden, mit einer hohen Chance eines Sistierens der Sturzanfälle.
Wozu führt nicht-invasives Video-EEG-Monitoring im Rahmen epilepsiechirurgischer Diagnostik?
Sehr häufig führt die nicht-invasive Diagnostik zu einer erfolgreichen Operation. Die postoperative Rate der Anfallsfreiheit lag in der Bethel-Serie bei 50,5 %, gut vergleichbar mit anderen Epilepsiezentren; wenn zu den anfallsfreien Patienten auch die mit persistierenden Auren hinzu gezählt werden, also nicht beeinträchtigende Vorgefühle mit erhaltenem Bewusstsein, steigt die Rate der anfallsfreien Patienten um weitere 11–15 % (Cloppenborg et al. 2016). Manchmal wird eine invasive Diagnostik aufgrund einer im Monitoring generierten Hypothese der Resektion vorgeschaltet (
Fallbeispiel 2.1).
Bei der im Epilepsiezentrum Bethel seit 1990 beobachteten großen Patientenpopulation in der epilepsiechirurgischen Diagnostik wurden insgesamt etwa ein Drittel der Patienten (zuletzt etwas mehr als die Hälfte) nicht einer Operation zugeführt. Dies geschah teils aus ärztlichen Gesichtspunkten wegen fehlender Hypothese für ein epilepsiechirurgisches Vorgehen oder wegen fehlender Resektionsmöglichkeit bei Überlappung oder Nähe zu eloquentem Kortex – nach individueller Abwägung von Chancen und Risiken. Zunehmend entschieden sich aber auch die Patienten selbst mit einem Prozentsatz von 30 % gegen die angebotene Möglichkeit einer Operation. Der Anstieg der Zahl der Patienten, die nicht zustimmten, kann erklärt werden durch die zunehmende Komplexität der epileptologischen Aufklärung über Vorteile und potenzielle Risiken, andererseits aber auch mit zunehmenden invasiven diagnostischen Möglichkeiten mit subduralen und Tiefenelektroden bei insgesamt komplexeren diagnostischen Anforderungen (
Kap. 18.3).
Bei den nicht operierten Patienten ergeben sich aufgrund der Diagnose z. B. dissoziativ psychogener Anfälle Möglichkeiten für eine weitere Versorgung innerhalb des Epilepsiezentrums auf einer Station für psychosomatische Epileptologie und Verhaltenstherapie. Andere Patienten können aufgrund der Diagnostik gezielt medikamentös behandelt werden, wenn z. B. eine idiopathische/genetische Epilepsie diagnostiziert wurde, oder es wird ihnen ein Angebot zur stationären medikamentösen Umstellung oder ein stationäres Rehabilitationsangebot gemacht.
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