Patta dachte an Eishaar. War der etwa auch einmal so eine Missgeburt gewesen? Eines war sicher. Hätte er nicht genau gewusst, was er da vor sich hatte, er hätte Befehl gegeben, dieses scheußliche Neugeborene und alle ihm folgenden zu töten, sie vom Erdboden zu vertilgen. So aber … Tolor konnte es sich nicht leisten, auf irgendwelche Hilfe zu verzichten. Egal, wie hässlich sie einher kam.
Außerdem war da immer noch die Aussicht auf zukünftige eigene Zauberer.
Die weitere Drachenbrut wurde in kurzen Abständen geboren, in einem Zeitraum von nur wenigen Tagen, als ob ein Signal sie alle zur Geburt rief. Ohne Jos Hilfe wäre das schiefgegangen. Alleine hätte Fü kaum ein Drittel der Frauen betreuen können, und unter den restlichen hätte es mit Sicherheit Tote gegeben. Auch wenn sich die Hebammen zunächst heftig gegen die Einmischung eines Mannes in ihre Arbeit gesträubt hatten, überzeugte sie das Ergebnis. Alle Frauen überlebten, etliche so wenig verletzt, dass die Hebammen ihnen die Möglichkeit weiterer Kinder versprechen konnten.
König Patta sorgte diskret dafür, dass die Ehemänner dieser Frauen schnellstmöglich wieder mit ihren Gattinnen zusammenlebten, unter seiner Aufsicht, in seinem Schloss, verstand sich. Und dass jene Frauen, die zurzeit keinen Ehemann hatten, willige Bettpartner fanden. Kaum zwei Monde nach der Geburt der Hornstachler wusste Patta mit Sicherheit, dass Tolor im kommenden Jahr einige potentielle Zauberer bekommen würde.
Und die würden sie brauchen. Weder Eishaar noch ein anderer Drachenherr hatte sich in Tolor wieder blicken lassen.
*
Pi hatte Recht gehabt. Die Drachenbrut reagierte auf sie. Fü war mehr als froh, zur Abwechslung mal für Leben und nicht für Tod zu sorgen. Und auch wenn die jungen Hornstachler abgrundtief hässlich waren, ihre Gedanken fühlten sich warm und weich an, und im Gegensatz zu menschlichen Kindern konnte Fü sie in den Arm nehmen, ohne ihnen dabei versehentlich Lebenskraft zu rauben. Fü genoss es, sich uneingeschränkt kümmern zu dürfen.
Die Mütter hatten auch absolut nichts dagegen, dass die junge Zauberin bei der Versorgung der Drachenbrut mithalf. Einige waren dermaßen entsetzt über das, was sie geboren hatten, dass sie ihre Kinder kaum ansehen mochten. Zwei der Frauen flohen sogar aus dem Palast.
Danach kümmerte sich Fü auch um die Mütter, hörte sich ihre Sorgen und Ängste an und schaffte es, sie wieder zu stabilisieren.
Allerdings gab es jetzt ein anderes Problem, wie Fü und Jo König Patta schonend beibrachten. Die Hornstachler würden nur einen einzigen Winter als Hilfe zur Verfügung stehen. Bei so vielen Frostgeistern würden sie danach so gut im Futter stehen, dass sie sich bereits im zeitigen Frühjahr in die Hochtäler absetzen konnten, um sich dort zu verpuppen. Wenn also keiner der Drachenherren in diesem Jahr nach Tolor zurückkehrte und für neuen Nachwuchs sorgte, würde Tolor im folgenden Jahr diese zusätzliche Unterstützung nicht mehr haben.
Marle begleitete ihr Volk nach Tolor. Bis zur Grenze ging sie ihren Leuten voran. Die tolorischen Grenzfesten waren leer. Keine Posten bewachten die Pässe. Patta brauchte seine Soldaten dringender zur Bekämpfung der Frostgeister. Marle beriet sich mit den Sippenältesten. Sie beschlossen, zusammenzubleiben und die nächste größere unter den Ortschaften aufzusuchen, die von den Toloriern aufgegeben worden war. Immer vorausgesetzt, diese Ortschaft war gut gegen Frostgeister zu verteidigen. Danach würden sie König Patta Botschaft schicken, wo seine unfreiwilligen Gäste den Winter verbringen würden, und um ein oder zwei Feuerbälle für den Notfall bitten. Nach dem letzten Winter waren selbst die Sippenältesten bereit, den karapakischen Zauberern notfalls dafür einige Kinder zu geben.
Marles Kopf war während dieser Besprechung immer tiefer gesunken, und als die Ältesten von den Kindern sprachen, verließ sie die Runde, gebeugt wie eine alte Frau. Ihre Mutter eilte ihr nach und versuchte, mit ihr zu reden. Marle antwortete ihr nicht.
Am nächsten Morgen war Marle verschwunden. Zwei Hunde hatte sie mitgenommen, und ein paar Vorräte. Mehr nicht.
Der Weg nach Tolor war lang und beschwerlich gewesen. Jetzt, wo sie ihn alleine zurückging, wirkte er endlos. Nie zuvor hatte sie das Schweigen der Berge so drückend gefunden. Marle war froh, dass die Hunde bei ihr waren. Sie kuschelte sich in den kalten Nächten zwischen sie, sie sprach mit ihnen, und sie fand es tröstlich, dass wenigstens die Hunde sie nicht vorwurfsvoll ansahen.
Vier Tagesreisen vor Ganen wechselte sie auf den Weg in die Hochlagen vor den Drachenzahnbergen. Dorthin, wo die Eisleute zuletzt zugeschlagen hatten.
Das zerstörte Dorf war von bunten Bergblumen überwachsen. Aus dem dachlosen Inneren eines Hauses ragte der Spross einer jungen Bergbirke. Außer einigen verkohlten Balken, den Scherben der Tontöpfe und den Knochen der Ziegen und Hunde deutete nur noch wenig auf die Tragödie hin, die sich hier abgespielt hatte. Marle suchte nach Hinweisen auf die Eisleute, fand aber keine. Natürlich nicht. Wenn hier Spuren gewesen waren, dann waren sie bereits vor etlichen Monden mit dem Schnee verweht.
Wo immer die Eisleute steckten, hier waren sie kein zweites Mal gewesen. Aber Marle würde sie finden. Egal, wie tief sie sich im Berg verbargen, auch die Eisleute mussten essen. Irgendwann mussten sie herauskommen. Und dann würden sie Spuren hinterlassen, die Marle finden konnte. Oder die Hunde. Marle machte sich daran, systematisch einen Berg nach dem anderen abzusuchen.
Sie brauchte fast einen ganzen Mond, bevor sie die ersten Hinweise fand. Einen Mond, in dem Marle und die Hunde fast nur von erbeuteten Mäusen und Vögeln lebten, weil die ganze Gegend leergejagt war und sämtliche Vorräte in den zerstörten Dörfern geplündert. Ein einziges Mal gelang es Marle, einen unzerstörten Vorratskrug mit Getreide vom Vorjahr zu finden. Sechs Tage lang konnte sie sich Brotfladen damit backen. Ein Festmahl.
Wenn der Winter kam, die Vögel fortzogen und die Mäuse unter dem Schnee verschwanden, würde sie verhungern. Allerdings war Marle sich ziemlich sicher, dass sie im Winter ohnehin nicht mehr hier sein würde.
Es war die braune Hündin, die die entscheidende Fährte fand. Hinter den Felsen lauerte Marle geduldig volle zwei Tage, bis endlich ein Jäger der Eisleute auf dem schmalen Pfad erschien, eine erlegte Bergziege auf dem Rücken tragend. Sie sah, wie er auf eine scheinbar geschlossene Felswand zuging und plötzlich darin verschwand.
Marle wartete bis kurz vor Sonnenuntergang, bevor sie ihm folgte. Hinter Brombeerranken in einer Mulde versteckt fand sie einen schmalen Eingang zu einer Höhle, den sie ohne ihre Beobachtung vermutlich vollkommen übersehen hätte. Gerade wollte sie hineinschlüpfen, als die braune Hündin Laut gab. Dann ertönte hinter ihr ein erstickter Schrei, und ein Pfeil prallte kaum eine Handbreit neben ihrem Gesicht auf den Felsen. Ein Wachtposten! Verdammt, das hätte sie sich eigentlich denken können. Marle fuhr mit gezücktem Dolch herum. Aber die Hunde hatten bereits ganze Arbeit geleistet. Der Rüde stand über einem liegenden Mann, die Zähne an dessen Kehle. Marle trat vorsichtig näher. Unweit des Mannes lag ein Bogen mit einem weiteren Pfeil am Boden. Die Hündin jaulte leise, weinerlich. Zwischen ihren Rippen steckte ein Messer. Marle sah den Mann an. „Wenn du leben willst, musst du reden.“ Der Mann zischte nur verächtlich und schloss die Augen.
„Mir auch recht.“ Mit sicherere Hand ließ Marle das Messer über seine Kehle fahren. Der Hund wich ein Stückchen zurück, hielt dann inne und begann, das sprudelnde Blut zu lecken.
Die Hündin war verloren. Marle hatte nicht die Mittel, ihre Verletzung zu versorgen. Ein rascher Blick zum Himmel – der Sonnenuntergang stand unmittelbar bevor. Die gleiche Klinge, die zuvor die Kehle des Eismannes zerschnitten hatte, gab jetzt der Hündin ein rasches Ende. Dann durchsuchte Marle die Habseligkeiten des Toten. Wie sie gehofft hatte, fand sie ein kleines Talglicht.
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