Der Hund winselte und zog ängstlich den Schwanz ein, folgte ihr aber in den finsteren Stollen. Es schien ein natürlicher Spalt im Fels zu sein. Der Boden war glatt, der Gang musste häufig benutzt worden sein. Vorsichtig schirmte Marle das Talglicht mit der freien Hand ab. Sie durfte auf keinen Fall bemerkt werden.
Ohne den Hund hätte sie es nicht geschafft. Sein leises Knurren warnte sie gerade rechtzeitig. Hastig drückte sie sich in eine Nische und löschte die Flamme.
Einer der Eisleute erschien, Bogen und Köcher auf dem Rücken, in der linken Hand ein weiteres brennendes Talglicht. Offenbar die Ablösung für die Wache. Wenn der Mann bis an die Oberfläche kam, würde er sofort Alarm schlagen. Marle zückte ihren Dolch.
Der Hund hätte sie beinahe verraten. Marle sah den Eismann vorbeigehen. Kaum einen Schritt hinter ihrem Versteck hielt er plötzlich inne, wendete den Kopf hin und her und sog prüfend die Luft ein. Marle sprang. Der Hund sprang gleichzeitig. Keiner von ihnen hätte alleine eine Chance gehabt. So aber packte der Hund das Handgelenk des Mannes, und Marles Dolch konnte ungehindert sein Ziel erreichen. Das Talglicht rollte über den Boden, erlosch aber nicht.
Marle spürte ihr Herz wild pochen. Das war knapp gewesen. Und es verringerte die Zeit, die sie hatte, denn es würde den Eisleuten auffallen, wenn der abzulösende Wachtposten nicht zurückkam. Sie sah den Hund an. So sehr es ihr widerstrebte, sie musste alleine weitergehen. Der Geruch des Hundes würde sie verraten. Die Eisleute hielten keine Hunde. Sie aßen sie nur.
Der Rüde gehorchte, wie er es gewohnt war, und legte sich neben dem Toten auf den Boden. Marle nahm das brennende Talglicht auf und ging weiter den Gang hinab.
Irgendetwas hatte sich verändert. Marle hielt inne und schirmte die kleine Flamme mit der Hand ab. Der Gang vor ihr war so dunkel wie der Gang hinter ihr. Aber jetzt, wo ihre eigenen Schritte sie nicht mehr ablenkten, hörte sie es. Leise, ferne Geräusche, die von Menschen kündeten. Vorsichtig ging sie weiter, zwei, drei Biegungen. Vor ihr war ein rötlicher Schimmer. Marle stellte das Talglicht auf den Boden und schlich weiter. Noch zwei Biegungen, und der schmale Felsspalt öffnete sich jäh zu einer gewaltigen Höhle, die zu einem unterirdischen Bach hin abfiel. Am Ufer dieses Baches standen fellbedeckte, halbkugelige Hütten. Kleine Feuer erleuchteten die Silhouetten von Menschen. Männerstimmen, Frauenstimmen, lachende Kinder. Einen Moment fühlte Marle sich in einen seltsamen Traum versetzt. Dann hörte sie ein ihr nur zu gut bekanntes Zischen. Hornstachler! Hektisch sah sie sich um. Zwei Mannslängen vor ihr bewegte sich etwas, was sie für einen Felsbrocken gehalten hatte, hob sich bis weit über ihren Kopf, wankte leicht und zischte wieder, bevor es mit einem schabenden Geräusch wieder zu Boden fiel. Marle regte sich nicht. Wenn der Hornstachler lauter wurde, würden die Eisleute nachsehen wollen, was hier los war, und sie entdecken. Sie wagte es nicht, auch nur den Kopf zu drehen. Systematisch suchte sie mit den Augen. Da hinten! Auch dort bewegte sich einer der Felsen. Ein zweiter Hornstachler. Sie wartete. Der erste Hornstachler kroch unruhig hin und her. Er schien weder angebunden noch verkrüppelt zu sein. Was also hielt ihn hier unten, in der für ihn so schmerzhaften Tiefe? Dann entdeckte sie es. In wenigen Schritten Abstand waren schlanke, mehr als armlange Ruten in den Boden eingelassen. Sie sahen aus wie Eis, konnten aber keines sein. Eis bog sich nicht derart. Eis summte auch nicht. Aber genau das taten diese Ruten. Und ihr Summen wurde lauter, wenn der Hornstachler näher kam. Was immer dieses Summen war, es schien die Hornstachler zu quälen, denn das Wesen wich sofort zurück, wenn das Summen lauter wurde. Marle versuchte, auszumachen, wie die Ruten verteilt waren. Sie waren rechts und links von dem Felsspalt aufgestellt. Als sie vorsichtig zur Seite sah, erkannte sie einen weiteren Felsspalt, der ebenfalls von zwei Ruten bewacht wurde. Und eine lange, dünne Reihe von Ruten, die das Innere der Höhle vor den Hornstachlern sicherte. Die Wesen hatten nur einen schmalen, steinigen Rand an der Höhlenwand, auf dem sie sich bewegen konnten. Einen Rand, der auf keinen Fall breit genug war, um ihnen irgendwo eine schmerzfreie Zone außerhalb der Reichweite der summenden Stäbe zu geben.
Marles Herz krampfte sich zusammen. Das war schlimmer, als sie gedacht hatte. Und jetzt? Sie war sich ziemlich sicher, dass sie die Eisruten nicht einfach entfernen oder zerstören konnte, ohne dass jemand es merkte. Entsetzt merkte sie, dass sie überhaupt keinen Plan hatte, wie sie diese Hornstachler befreien sollte. Sie hatte ja nie damit gerechnet, es überhaupt so weit zu schaffen.
„Verstehst du mich?“, flüsterte sie.
Der Hornstachler richtete sich wieder auf und kroch näher. Für einen Moment spielte der Widerschein der Feuer über seine Haut. Sie war schmutziggrau, mit dunkleren Stellen gesprenkelt. Aber auf dem Kopf hatte es rötlich geglänzt. Marle kannte diesen speziellen Hornstachler! Sie erinnerte sich an seine Geburt, hatte ihn sogar in ihren Armen gehalten, weil er so merkwürdig anders war als seine Geschwister. Keiner der anderen hatte mehr Farben als blassgrau und weiß gehabt. Dieser hatte sich unterschieden, durch einen unregelmäßigen, fleischroten Fleck mitten auf dem, was bei einem Menschen die Stirn gewesen wäre. Das hatte ihm auch, im Gegensatz zu allen seinen Geschwistern, einen Namen gegeben.
„Fleck!“, flüsterte Marle überrascht. Ob er sich erinnerte? „Fleck, erkennst du mich? Ich war bei deiner Mutter, als du geboren wurdest.“
Der Hornstachler wiegte seinen Körper, zischte aber nicht, als sie einen halben Schritt näher kam.
Marle versuchte, seine Ausmaße abzuschätzen. Würde er überhaupt noch durch den Gang durchpassen? Gerade noch, schätzte sie. Der andere, dunklere, der weiter hinten blieb, war ein wenig kleiner, der würde wohl kein Problem haben. Aber Zähne hatten die Hornstachler nur an einem Ende. Und sie waren zu groß, um sich im Gang umzudrehen. Auf ihrer Kehrseite waren sie wehrlos. Wenn diese Wesen eine Chance haben sollten, musste Marle ihnen den Rücken decken.
Bei den Eisleuten wurde es lauter. Jemand rief, fröhlich, fast übermütig. Marle zuckte zusammen. Feierten die etwa ein Fest? Aber dann begriff sie und verfluchte gleichzeitig ihre Dummheit. Die Eisleute waren nachtaktiv. Sie hätte es wissen müssen. Die Überfälle waren immer in der Nacht erfolgt. Das Lager war gerade dabei, richtig aufzuwachen. Und es konnte nicht mehr lange dauern, bis man die rückkehrende Wache vermisste und nachsah. Dann war sie geliefert.
Dann war auch die letzte Chance für diese Hornstachler vertan.
„Warte“; beschwor sie das Wesen. „Warte hier. Ich komme zurück, so schnell ich kann. Und dann hole ich dich hier raus.“
Sie hetzte zurück, so schnell es ging, ohne dass das Talglicht erlosch, zu der Stelle, wo sie den Hund bei dem Toten zurückgelassen hatte. Sie nahm alle Waffen des Toten an sich. Dann griff sie nach dem Halsband des Hundes und eilte mit ihm zurück.
Schon vor der letzten Biegung hörte sie die Hornstachler zischen. Natürlich, der Hund. Sie zerrte den Hund in eine Seitennische und beschwor ihn, sich nicht fortzurühren. Jetzt kam es nicht mehr darauf an, nicht entdeckt zu werden. Jetzt zählte nur noch Schnelligkeit. Sie nahm einen Stein auf, lief zu der ersten Eisrute, schlug zu. Ein hohes, helles Sirren und Klirren ertönte. Die Hornstachler kreischten auf. Marle spürte, wie ihre Ohren stachen und schmerzten. Egal. Die zweite Rute. Sie schlug erneut zu. Dieses Mal war das Sirren und Klirren so laut, dass Marle wie die Hornstachler gequält aufschrie. Sie lief zu den Wesen. „Kommt! Der Weg ist frei! Ihr könnt hier wieder heraus!“
Der zweite Hornstachler, dessen Haut überall schmutzigschwarz war, fauchte sie wütend an und zog sich zwei, drei Schrittlängen zurück. Der andere schnellte vor, landete direkt vor ihr und zischte. Marle sah hoch und blickte genau in den runden Schlund mit den vielen kleine, scharfen Zähnen. „Ich habe doch nur das zerstört, was euch hier gefangen hielt!“, schrie sie verzweifelt. „Ich will euch nichts tun. Ich will euch helfen! Seht doch, der Gang ist frei, ihr könnt hinaus!“ Der Hornstachler rührte sich nicht. Marle hörte die Rufe der Eisleute näher kommen. Denk nach , beschwor sie sich. Denk nach ! Dann fiel es ihr ein. Sie begann, das Wiegenlied von den Windschwingen zu summen. Der Hornstachler erstarrte. Marle lief zurück zum Eingang, immer noch summend. Sie hörte ein Geräusch hinter sich, sah sich um. Der schwarze Hornstachler hatte sich nicht gerührt, aber Fleck folgte ihr. Jetzt hatte er den Gang erreicht, zögerte. „Geh schon endlich! Beeil dich, sonst kriegen sie dich wieder. Ich bin nicht sicher, ob ich sie lange aufhalten kann.“ Als er sich immer noch nicht vorwärts wagte, stemmte sie sich mit aller Kraft gegen ihn und schob. Das half. Endlich setzte er sich in den Gang in Bewegung. Marle legte einen Pfeil auf die Sehne. Keinen Moment zu früh. Der erste der Eisleute war bereits so dicht herangekommen, dass sie sein Gesicht erkennen konnte. Verzerrt, wütend, den Mund zu einem Schrei geöffnet, der ihr gellend in den Ohren klang. Marle schoss ihm genau in diesen Mund.
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