„Weh tut?“, brauste Inagoro auf. „Was denkt Ihr eigentlich von mir? Ich bin doch kein Barbar!“
„Mag sein“, gab Kaleka ungerührt zurück. „Aber Euer Vater war ganz sicher einer. Ihr könntet ja nach ihm schlagen.“
Inagoro stöhnte entnervt auf. Das auch noch! Warum mussten ihn die Götter mit dieser beleidigenden Frau schlagen? „Ich … bin . .. nicht … mein … Vater!“
„Fein. Nachdem wir das geklärt haben, könnten wir alle unsere Pflichten erfüllen.“ Kaleka gab ihrer Schwester einen Klaps. Gehorsam begann die junge Frau, sich zu drehen. Natürlich trug sie keine Waffe am Leib. Inagoro kam sich vor wie ein Trottel. Und wie sollte es jetzt weitergehen?
Kaleka nahm ihm die Entscheidung ab. Sie kam zu ihm, nahm seine Hand und zog ihn zum Bett. „Ich bin die Ältere, also ist es angemessen, dass Ihr mit mir beginnt.“
Kaleka war nicht nur die Ältere. Sie war auch mit absoluter Sicherheit keine Jungfrau mehr. Nicht, dass Inagoro das überhaupt noch erwartet hätte. Aber wäre nur diese Frau zu ihm geschickt worden, dann hätte er das als Beleidigung und offene Kriegserklärung des Herrn der Grauen Schluchten werten müssen.
Immerhin war sie geschickt wie die Sklavinnen, die ihn bislang in den Nächten verwöhnt hatten. Schon nach wenigen Berührungen dachte er nicht mehr an den Herrn der Grauen Schluchten. Er dachte überhaupt nichts mehr. Und als sie mit ihm fertig war, war er müde und erschöpft genug, um ihre jüngere Schwester nur noch in einem sanften, fast traumartigen Nachspiel zu beglücken, bevor er endgültig einschlief.
Es war das erste und zugleich einzige Mal, dass er Kaleka beiwohnte. In den Nächten danach verzichtete Kikina auf den Schutz ihrer älteren Schwester. Und kaum einen Mond später war sie schwanger. Inagoro war maßlos erleichtert, dass er fortan den Sommerharem weitgehend meiden konnte.
Hornstachler-Winter
Winter 1022-1023
Mit dem ersten Schnee nach dem viel zu kurzen Bergsommer waren auch die Frostgeister wieder da. Und Taephe lernte zwei Dinge:
Erstens, das, was sie in Shioges Burg als Winter betrachtet hatte, war hier in den Bergen bestenfalls ein laues Lüftchen.
Und zweitens, das Leben in einem Sippenhaus im Winter unter Frostgeisterbelagerung war nichts, was sie ihr ganzes Leben lang ertragen wollte.
Es war eng im einzigen noch bewohnten Haus Ganens. Daran konnten auch die Anbauten, die die Männer in den letzten Monden geschaffen hatten, nichts ändern. Eng, laut, und es stank, denn neben all den Menschen drängten sich auch noch die Hunde, die Ponys und die Hornziegen im Haus. Draußen hätten die Frostgeister sie gefressen. Drinnen fraßen sie Taephes Nerven. Keine Ruhe, tags nicht, weil dann alles im Haus herumwuselte, nachts nicht, weil dann die Frostgeister angriffen. Keine Möglichkeit, sich einfach einmal für ein paar Minuten alleine zurückzuziehen. Nicht einmal einem Tempel oder eine Kapelle kannte man in Ganen, nur einen Hausaltar, der – natürlich – mitten im Haus stand.
Da war es dann schon fast eine Erlösung, wenn sie Nachtschicht hatte und zusammen mit anderen Frauen und Männern draußen bei den Hornstachlern wachte. Wobei Taephe immer mehr den Eindruck bekam, dass die Hornstachler intelligent waren. Es war schon fast unheimlich, in ihre Augen zu blicken. Nur gut, dass sie diese meist unter fetten weißen Wülsten verborgen hielten. Taephe war, als ob die Hornstachler tief in ihre Seele blickten. Entnervend. Die Einzige, die ihr zuvor ebenfalls dieses Gefühl vermittelt hatte, war ihre Ziehmutter Sirit mit ihren Spiegelscherbenaugen gewesen.
Eines jedenfalls wusste Taephe nun: Sie würde sich nie, nie, absolut nie hier in den Bergen wirklich zuhause fühlen.
Zusammen mit den beiden Hornstachlern schafften sie es tatsächlich, die Frostgeister in Schach zu halten, auch wenn immer wieder einzelne der Tiere durchbrachen und es bis ins Haus schafften. Irgendeine gnädige Gottheit verfügte, dass sie dort nur Tiere töteten.
Aber auch so kostete der Winter einiges. Er kostete Leben, denn die Bisse der Frostgeister führten immer wieder zu üblen Entzündungen. Er kostete Nerven, bei denen im Haus, die langen Nächte zitternd den Kampfgeräuschen draußen lauschten, und bei denen draußen, die sich immer wieder dem gefräßigen Tod stellen mussten. Die Nerven aller Bewohner Ganens lagen blank.
Es war die reinste Erlösung, als die Tage wieder länger wurden und der Schnee endlich zu tauen begann.
Taephe schickten einen der Männer, die ihr verstorbener Gatte ihr als Schutz mitgegeben hatte, zurück nach Karapak. Er sollte Informationen einholen. Ob Grau oder irgendein anderer Drache irgendwo gesichtet worden war. Und wie es um Orteges Burg aussah.
*
Immer noch keine Spur von dem Drachenherrn. Missmutig starrte Jo in den nebeligen Abend hinaus. Das war jetzt die dritte Frostgeisterhorde, die er erledigt hatte. Alleine, denn Fü hatte der Schutz der Ostprovinz übernommen. Zusammen mit den meisten der Hornstachlern. Im Osten war Tolor am wärmsten. Dort lagen die größten Städte – und auch die größten Getreidefelder. Folglich lebten dort auch die meisten zu schützenden Menschen. Jo gab es ungern zu, aber König Pattas Planung war einleuchtend. Und trotzdem. Er vermisste Fü. Und das nicht nur, weil ein einzelner Zauberer unter Nicht-Zauberern immer alleine war.
Hinter ihm im Schnee bewegte sich eine plumpe Gestalt. Einer der Hornstachler. Sie hatten ihn anstelle der Hunde mitgenommen. Er bemerkte die Frostgeister deutlich früher als ein Hund. Und er kämpfte besser. Widerwillig hatte Hauptmann Hako eingestehen müssen, dass so ein einzelner Hornstachler mindestens ebenso viele Frostgeister erledigen konnte wie die Hälfte seiner Männer zusammen. Zudem schienen die Hornstachler niemals zu schlafen. Sie bewegten sich lediglich im Hellen langsamer und ungeschickter als im Dunkeln. Offenbar waren ihre Augen so extrem lichtempfindlich, dass sie es tagsüber vorzogen, sie zu verbergen.
Die Soldaten hielten den Hornstachler für eine Art Tier. Vielleicht etwas intelligenter als ein Hund, aber ein Tier. Jo wusste es besser. Er hatte den Geist des Hornstachlers gespürt. Das Wesen war intelligent. Beunruhigend intelligent. Jo war sich sicher, dass der Hornstachler die tolorische Sprache inzwischen einwandfrei verstand. Nur konnte er nicht sprechen. Noch nicht.
Eine breite Soldatenhand schlug den Eingang des Zeltes zurück. „Wollt ihr nicht endlich hereinkommen, Meister Jo? Unser beinloser Wachhund wird schon aufpassen. Wenn ihr da draußen bleibt, holt Ihr Euch noch den Tod.“
Als Jo nicht gleich reagierte, fügte Hauptmann Hako hinzu: „Wir haben auch eine schöne, warme Suppe fertig.“
Wie auf ein Stichwort knurrte Jos Magen. Hakos Argumente waren überzeugend.
*
„Die sieht nicht so aus, als ob sie irgendetwas kann. Kochen kann sie jedenfalls nicht.” Der Soldat ließ missmutig den Löffel sinken.
Fü zog unbehaglich die Schultern hoch. Was erwarteten diese Männer eigentlich? Kochen war nicht ihre Aufgabe. Die konnten von Glück sagen, dass sie überhaupt für Essen gesorgt hatte. Außer Frostgeisterfleisch und etwas geschrotetem Getreide war ja nichts dagewesen. Noch nicht einmal Holz. Sie hatte einen halben Feuerball verbraucht, nur, damit diese undankbare Brut einen warmen Eintopf kriegte. Und das, obwohl sie selbst zum Umfallen müde war.
„Ist vermutlich ganz gut, dass die eine Zauberin ist. Heiraten würde die eh keiner. Zu dünn, zu hässlich. Und sie kocht schlecht.”
Das reichte. Fü fuhr herum. „Mag sein, dass ich schlecht koche. Aber ich höre ausgezeichnet. Wollt ihr lieber mit leerem Magen gegen die Frostgeister antreten? Oder vielleicht sogar ohne Feuerbälle? Dann bräuchtet ihr nicht die ganze Zeit eine hässliche Frau anzuschauen.”
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