Hinterher wusste sie nicht, wie sie es durch den ganzen Gang geschafft hatte. Die meiste Zeit war es so dunkel gewesen, dass sie ohne den Hund, an dessen Halsband sie sich krallte und der sie führte, nicht einmal gewusst hätte, ob sie vorwärts oder zurück lief. Und wenn es zwischendurch hell wurde, dann nur, weil ihre Feinde wieder nahe genug herangekommen waren, dass ihre Lichter sie zu Marles Zielscheiben machten. Wieder und wieder musste sie warten, musste kämpfen, weil der Hornstachler an den engen Stellen nur langsam voran kam. Da machte es schon fast nichts mehr aus, dass sie selbst langsamer wurde, weil ein Pfeil ihre Hüfte getroffen hatte, und ein anderer ihre linke Hand. Sie brach beide Pfeile ab und machte weiter. Es gab keine andere Option. Endlich erreichte sie das Ende des Spalts und stolperte ins Freie. Sternenklar wölbte sich der Himmel über den Bergen. Es würde noch mindestens drei Kerzen dauern, bis die Nacht vorüber war.
Noch während sie in den Himmel sah, traf sie ein weiterer Pfeil im Rücken. Der Hund bellte scharf auf und stürzte zurück zum Höhleneingang. Sie hörte jemanden schreien. Wie dumm von mir , dachte sie, während sie sich aus dem taunassen Gras wieder aufzurichten versuchte. Ihre Silhouette musste vor dem Sternenhimmel eine ideale Zielscheibe geboten haben. Mühsam drehte sie sich um und spannte den Bogen. Weitere Schreie. Dann jaulte der Hund auf, verstummte jäh. Marle war alleine.
Bis zum Sonnenaufgang hielt Marle durch. Der Höhleneingang war schmal, mehr als ein Mann zur Zeit konnte ihn nicht passieren. Nach den ersten drei Toten waren die Eisleute vorsichtiger. Sie konnten es sich leisten, hatten Zeit. Marle nicht. Sie spürte, wie ihr Leben langsam im Gras versickerte. Wenn die Eisleute noch etwas Geduld hatten, würde Marle ihnen wie eine reife Frucht in die Hände fallen. Buchstäblich. Der Himmel wurde heller. Marle zwang sich, wach zu bleiben, weiter zu lauern, weiter zu leben. Sie wollte nicht im Nachtdunkel sterben. Wenn sie starb, dann sollte es unter der Sonne ihrer Heimat geschehen. Der Himmel rötete sich. Marle verschoss ihren letzten Pfeil. Dann konnte sie nur noch warten. Einer der Eisleute sah aus der Höhle. Als kein Pfeil heranflog, sprang er mit einem triumphierenden Heulen hinaus. Marle drehte sich schwerfällig um, sah dorthin, wo sich gerade ein goldfarbener Saum über die Berge schob, wo das Licht aufstrahlte und die Farben über den Himmel spielten, und wartete auf den Tod.
Ein weiterer Schrei hinter ihr, überrascht und wütend, der in einem Gurgeln abbrach. Marle rührte sich nicht. Niemand kam. Die Sonne schob sich höher. Schließlich löste sich die goldene Scheibe von den Berggipfeln. Und vor Marle wuchs eine dunkle Gestalt aus dem Boden. Der Hornstachler. Der rote Fleck auf seiner Stirn schien im Sonnenlicht zu leuchten. Die dunkle Haut seines Körpers war an verschiedenen Stellen aufgeplatzt, hing in Fetzen herab von dem schneeweißen Raupenkörper, der darunter wieder zum Vorschein kam. Wenigstens dieser hier war gerettet. Der andere … Eine Träne rann über Marles Wange. „Es tut mir so leid, dass ich deinem Bruder nicht helfen konnte. Er wollte einfach nicht … und ich … ich kann nicht zurück … es geht nicht mehr … ich sterbe … Es tut mir so leid!“
Der Hornstachler hob sein vorderes Ende höher und öffnete sein Maul. Wieder sah Marle seine Zähne. Die Hornstachler waren immer hungrig. Das wusste sie noch sehr gut. Weit und breit gab es hier keine Tiere mehr, die der Hornstachler hätte essen können. Und sie schuldete ihm etwas. „Ja“, flüsterte sie.
*
Hoch oben auf dem nahen Gipfel schauten zwei große weiße Drachen zu, wie der Hornstachler die Menschenfrau verschlang. Der kleinere von ihnen hob fast spielerisch eine Kralle, an der ein Leichnam hing. „Wir hätten meinem Sprössling doch auch die erlegten Eisleute geben können.“
Der größere kratzte sich im Nacken und streckte genüsslich seine Flugmuskeln. „Wozu? Die da wäre ohnehin gestorben. Und ich finde, so hat die ganze Sache etwas von einem gerechten Ausgleich.“
„Und jetzt?“
„Jetzt bringen wir deinen Sprössling an einen sicheren Platz, damit er sich verpuppen kann. Groß genug ist er schließlich geworden.“
„Das meine ich nicht. Was machen wir jetzt mit den Menschen? Denen, die in unseren Bergen geblieben sind, meine ich.“
Der größere Drachen entblößte die Zähne zum Drachen-Äquivalent eines Grinsens. „Wir werden sie etwas zappeln lassen. Aber wir lassen sie natürlich bleiben. Ohne Menschen wäre es hier einfach nur schrecklich langweilig.“
Inagoro musste sich zur Ruhe zwingen. Seine Bräute würden gleich eintreffen. Bräute, die außer den Priestern keiner richtig wollte. Nicht einmal das Volk, das verdächtig still dem Hochzeitszug Spalier stand.
Niemand hatte damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Ein einziges, höfliches Anschreiben an Drakbur, den Herrn der Grauen Schluchten, mit dem Angebot, durch diese Heirat die vergangenen Unstimmigkeiten zwischen den Seefahrern und dem Reich zu beseitigen und zur Steigerung des allgemeinen Wohlstandes wieder besser zusammenzuarbeiten. Drakbur hatte geradezu begeistert reagiert und ihm nicht eine, sondern gleich zwei Frauen geschickt. Schwestern. Weil, wie der alte Seefuchs schrieb, die beiden ohnehin unzertrennlich waren, und es überdies Situationen gäbe, wo ein Mann zwei Frauen in seinem Bett bevorzugen mochte.
Inagoro hatte ein ganz, ganz übles Gefühl in der Magengrube. Zwei Töchter des Herrn der Grauen Schluchten gleichzeitig, das bedeutete Schwierigkeiten im Doppelpack.
Und es bedeutete eine neue Herrscherin im Sommerharem.
Ob seine Mutter sich sofort in den Winterharem zurückziehen würde?
Inagoro war sich ziemlich sicher, dass er das nicht wünschte. Irgendjemand musste ein Auge auf seine neuen Frauen haben. Wer war dafür besser geeignet als Sirit mit ihren Zauberaugen? Gesagt hatte er nichts. Seine Mutter war keine, der man Vorschriften machte. Und sobald seine neuen Gemahlinnen ihm einen ersten Sohn geboren hatten, konnten sie eh darauf bestehen, dass die Mutter des Königs sich in den Winterharem zurückzog. So war es immer schon gewesen.
Er meinte fast, spüren zu können, dass auch seine Mutter nervös war. Sehen konnte er sie nicht, sie stand hinter ihm, wie es das Protokoll vorschrieb. Aber auch die Herren des Thronrates wirkten angespannt, selbst die Abordnung der Kristallkammer. Die hatten auch allen Grund dazu. Die grauen Schluchten waren der Kristallkammer verschlossen, schon seit Jahrhunderten. Bereits vor dem Aufstand in den Drachenbergen hatten die Zauberer die Grauen Schluchten verlassen müssen. Und sie hatten niemals auch nur den kleinsten den Versuch gemacht, ihr Einflussgebiet wieder dorthin auszudehnen.
Was immer die Grauen Schluchten genau waren, eines wusste Inagoro bestimmt: Dort lag ein Machtzentrum unbekannter Stärke, dass sich gerade entschlossen hatte, wieder im Spiel der Politik aktiv zu werden.
Fanfarenstöße.
Der Brautzug bog auf den großen Platz vor dem Palasttor ein.
Inagoro spürte einen Schweißtropfen, der ihm den Nacken hinunterrann.
Zwei Sänften, über denen an langen Stangen die Wimpel der Grauen Schluchten flatterten. Eine Mannschaft Fußtruppen vor den Sänften, eine dahinter. Die Männer waren deutlich größer als karapakische Soldaten. Ein Mann zu Pferd, ebenfalls von ungewöhnlicher Größe, führte sie an. Seiner schmalen Statur und den schlanken, fast zarten Fingern nach hätte er eher in eine Schreibstube gepasst als zu einem Soldatentrupp.
Die Träger setzten die Sänften direkt vor Inagoro am Fuß er Palasttreppe ab. Der Reiter stieg vom Pferd und kam die Treppe hoch. Inagoro bemerkte, dass er leicht hinkte. In seinen Händen hielt er eine Rolle. Den Ehevertrag.
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