Es war eine Erlösung, als endlich Antwort aus Tolor eintraf. König Patta war mit einer Übersiedlung einverstanden, solange die kirsitanischen Sippen in Nord-Tolor in den von Toloriern geräumten Ortschaften blieben. Sie konnten die Weiden, die Vorratshäuser und alle sonstigen Gebäude nutzen, die leer standen. Und sie würden von den Patrouillen und den Zauberern Hilfe gegen die Frostgeister bekommen. Mehr versprach Patta nicht. Auch nicht, wie viel Hilfe sie erwarten duften. Seine eigene Bevölkerung hatte immer noch Vorrang.
Marle reichte es. Eine Chance, egal wie klein, war besser als gar keine Chance. Sie begann ihr Volk gen Süden zu schicken.
Einige wollten nicht. Trotz der Forstgeistergefahr bestanden sie darauf, in Ganen zu bleiben. Die alte Betha sprach für sie. „Solange auch nur ein einziges Sippenhaus bewohnt bleibt, solange wird Kirsitan existieren. Solange werdet ihr einen Ort haben, an den ihr zurückkehren könnt.“
„Ihr seid viel zu wenige.“
Betha schüttelte den Kopf. „Du irrst, Duka. Es bleiben nicht nur etliche von uns hier. Es kommen auch noch viele aus Karapak zurück. Und sie sagen, dass sie ihre Heimat niemals wieder verlassen wollen.“
„Dann werden sie sterben.“
„Besser, wir sterben“, mischte sich ein Mann ein, „als dass wir als Geduldete oder sogar als Sklaven in einem anderen Land leben. Die Karapakier werden uns niemals erlauben, dort Kirsitaner zu bleiben.“
„Außerdem bin ich nicht so sicher, dass wir tatsächlich sterben werden“, nahm Betha den Faden wieder auf. „Immerhin gibt es ein Sippenhaus hier, das weiterhin unter dem Schutz der Drachenherren steht.“
Marle sah sich um. Taephe stand neben ihrer Freundin Inana. Sie ging zu ihr. „Heißt es das, was ich denke?“
Taephe schlug bejahend die Augenlider nieder. „Ich werde bleiben. Wenn ich weiter nach Süden gehe, werden meine Söhne vielleicht niemals ihr Erbe sehen. Wenn ich jetzt zurückgehe nach Karapak, werden sie es zwar sehen, aber mit Sicherheit dabei sterben. Also bleibe ich hier, an dem Ort dazwischen, der mir alle Möglichkeiten offenlässt.“
Betha war Marle nachgekommen. Sie sah der Duka gerade in die Augen. „Diejenigen, die bleiben wollen, werden zu Taephe und Inana in das Sippenhaus des Steinweidenclans ziehen. Wir werden das Haus entsprechend vergrößern. Wir werden es so bauen, dass wir es besser verteidigen können. Und wir werden es groß genug machen, dass Tiere und Vorräte unter dem gleichen Dach Platz finden.“
Marle nickte. „Der Plan klingt vernünftig.“ Sie ging zurück zum Feuer. „Hört mich, meine Schwestern! Ihr kennt Bethas Vorschlag, und ich heiße ihn gut. In einem halben Mond werden alle, die nach Tolor gehen wollen, Ganen verlassen. Wir müssen noch vor dem Einbruch des Winters dort sein. Auch ich werde Ganen verlassen. Aber Kirsitan braucht eine Duka. So will es unser Gesetz. Und da ich keine Töchter habe, und weil ich, genauso wie die vorherige Duka, meine Großmutter, Fehler gemacht habe, die mein Volk teuer zu stehen kamen, schlage ich vor, dass die neue Duka aus einer anderen Sippe gerufen wird. Ich schlage eine Frau vor, die überlegter handeln wird als ich. Eine Frau mit ausreichender Erfahrung. Betha soll eure neue Duka sein.“
Zwölf Tage später brachen die Bewohner von Ganen nach Tolor auf, Menschen Tiere, Hab und Gut. Eine lange Karawane schlängelte sich durch die Täler und über die Bergpässe. Die, die zurückblieben, sahen ihnen lange nach, bevor sie wieder an ihre Arbeit gingen.
„Haben wir richtig gehandelt, hierzubleiben?“, fragte Inana, als die Sippenfrauen abends um das gemeinsame Feuer saßen.
„Ich weiß es nicht“, sagte Taephe leise. „Aber immerhin haben wir Hoffnung. Und ein Versprechen.“
„ Du hast ein Versprechen. Wir nicht.“
„Dann bleibe ich solange, bis auch ihr ein Versprechen habt.“
Betha spuckte ins Feuer. Es zischte kurz. „Adoptivtochter Sirits, bist du dir im Klaren über das, was du da gerade gesagt hast? Wir haben jetzt ein Versprechen. Deines.“
Taephe korrigierte ihre Worte. „Ich bleibe solange, bis auch ihr sein Versprechen habt.“
In Betha gluckste ein Lachen auf. „Du lernst schnell, Frau aus der Ebene. Deine Ziehmutter hat dich anscheinend gut ausgebildet. Vielleicht hätte Marle nicht mich, sondern dich zur nächsten Duka machen sollen.“
Taephe schüttelte den Kopf. „Meine Söhne sind Karapakier. Wenn schon nicht für meine Ehre, dann schulde ich es auf jeden Fall ihrer Ehre, dafür zu sorgen, dass sie ihr Erbe eines Tages erhalten werden.“
Betha spuckte erneut ins Feuer. „Söhne, Töchter“, brummelte sie. „Das bedeutet nichts, so wenig wie die Ehre. Wichtig ist nur, dass sie unsere Kinder sind und dass wir versuchen, ihnen einen Platz zum Leben zu geben.“
Taephe schwieg und rückte enger an Inana heran.
Endlich Frühling. König Patta war sich nicht sicher, wann er das letzte Mal dermaßen erfreut über Tauwetter gewesen war. Frühling, das bedeutete, dass die Frostgeister sich in die Höhenlagen zurückzogen. Dass die Bergbauern die Almwiesen wieder nutzen konnten. Frühling bedeutete auch, dass es nicht mehr lange dauern würde bis zur Geburt der ersten Drachenjungen.
Die Drachenherren selbst hatten sich den ganzen Winter nicht wieder in Tolor blicken lassen. Was immer er bislang von den karapakischen Zauberern gedacht hatte, Patta war bereit, zuzugeben, dass zumindest diese beiden hier, Jo und Fü, wirklich alles in ihrer Macht stehende getan hatten, um die Frostgeister aufzuhalten. Abgekämpft sahen sie aus. Jo war hager geworden. Scharfe Linien hatten sich in sein Gesicht gegraben. Fü wirkte erschöpft und ausgelaugt, gleichzeitig ein wenig traurig. Und so sehr sie ein Kind zu sein schien, ihre Augen erzählten etwas anderes.
Tolor schuldete diesen beiden Zauberern etwas. Patta war sich nur noch nicht sicher, wie er diese Schuld zurückzahlen konnte. Vorerst behielt er sie erst einmal als seine persönlichen Gäste im königlichen Palast, in dem praktischerweise auch gleich alle Frauen untergebracht waren, die Drachenbrut in sich trugen.
Ein wenig unheimlich war es ja schon, wie schnell diese Brut wuchs. Nach dem, was die Hebammen und Zauberin Fü sagten, würde die Drachenbrut volle zwei Monde früher geboren werden als ein Menschenbaby. Patta hatte keine Einwände. So würden sie lange genug vor dem nächsten Winter geboren werden, um im Sommer zu einer sehr kampftüchtigen Größe heranzuwachsen, und alles, wirklich alles, was Frostgeister aufhalten konnte, brauchte Tolor verzweifelt.
Noch aber waren die beiden jungen Zauberer seine größte Sorge. Hoffentlich kamen sie nicht auf die Idee, wieder nach Karapak zurückzukehren. Pattas Geheimkorrespondenz mit Sirit hatte mehr als einen Hinweis seitens der Königinmutter enthalten, dass die Kristallkammer keineswegs einverstanden war mit dieser unbezahlten Hilfe für Tolor.
*
Großmeister Ro schrieb erneut einen Brief nach Tolor. Dieses Mal hochoffiziell. Wenn dieser wohlmeinende Idiot Jo nicht von alleine auf die Idee kam, dass er in die Kristallkammer zurückkehren musste, würde er ihn daran erinnern. Ro konnte nicht tolerieren, dass dieser noch nicht einmal fertig ausgebildete Zauberer zusammen mit einer bloßen Adeptin Tolor sozusagen im Alleingang und außerhalb seiner Einflusssphäre rettete. Zumal Jo damit auch so ziemlich alle Regeln gebrochen hatte, die die Zauberer in den letzten achthundert Jahren für den Verkehr mit bloßen Menschen aufgestellt hatten. Wenn das Schule machte, bekam die Kristallkammer womöglich den nächsten Aufstand. Oder, schlimmer noch, die Leute würden irgendwann erwarten, dass die Kristallkammer nur noch gratis für sie arbeitete. Das ging auf keinen Fall. Ro sah seine Spiegel dank der Frostgeisterplage schon jetzt schneller schwinden, als ihm lieb war.
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