Einen Moment rebellierte Sirits tolorisches Herz. Was wäre schon dabei, wenn die Feinde ihres Heimatlandes vom Antlitz der Welt verschwänden? Aber dann fiel ihr Rainas herzliche Umarmung ein. Und Taephes Lächeln, wenn sie wieder etwas ausgeheckt hatte und glaubte, ihre Ziehmutter hätte es nicht gemerkt. Und … und Inagoro, der ihr, nachdem sie ihm von den Bergen erzählt hatte, Berge an die Wand ihres Schlafzimmers gemalt hatte. Unbeholfene Berge, von einem Sechsjährigen gemalt, der in seinem ganzen Leben noch keinen richtigen Berg gesehen hatte.
Dieses Spiel musste sie mitspielen.
Sie sah die Priesterin mit festem Blick an. „Dann sei es, wie du sagt. Eine Frau aus den Grauen Schluchten. Allerdings befürchte ich, um das durchzusetzen, wird die Priesterschaft sich offen äußern müssen. Denn mich wird der Thronrat in dieser Entscheidung ganz sicher nicht hören wollen.”
Die Priesterin lächelte. „Gibt es irgendeinen Mann im Thronrat, der sich dem Orakel der Flussgöttin widersetzen würde?”
Sirit lächelte zurück, trotz jener Ahnung in ihr, die von bösen Folgen schrie. „Vermutlich nicht.”
*
Es gab in der Tat keinen, auch wenn mehr als ein Mitglied des Thronrates aussah, als ob es dem Schlaganfall nahe war. Selbst von ihrem Beobachtungsplatz oben auf der versteckten Galerie konnte Sirit genau sehen, wie die Männer die Lippen zusammenkniffen und die Fäuste ballten, wie sie, je nach Gemütslage, rot anliefen oder blass wurden, als die Priesterin im Namen der Göttin ihre Empfehlung gab.
Ausgerechnet die Grauen Schluchten! Das Land am Meer von Narkassia. Ein Land, das nur nominell zu Karapak gehörte. In dem, allen Berichten nach, die hinterlistigsten Halsabschneider den Abschaum des Reiches um sich gesammelt hatten. Ein Land, das in erster Linie von der Seeräuberei lebte. Und ein Land, dessen Fürsten dem Haus Mehme seit zwei Generationen Blutfehde geschworen hatten.
Keine Frage, die Grauen Schluchten würden einem offiziellen Antrag des Thronrates nachkommen und dem Haus Mehme eine Prinzessin liefern. Immerhin gehörten sie nach Recht und Gesetz zum Reich. Aber Inagoro würde von da ab gut daran tun, niemals wieder im Sommerharem zu schlafen, dort weder zu essen noch zu trinken und seine Gattin vor jedem Beischlaf nach versteckten Waffen zu durchsuchen.
Sirit war sich nicht sicher, was schlimmer war: Ihre eigene Ehe mit Tolioro, oder das, was Inagoro als Ehe aufgezwungen wurde. Selbst die Kandidatinnen des Thronrates wirkten gegen diese Alternative wie harmlose Vergnügungsdamen.
Marle erwachte von einem ungewohnten Geräusch. Sie lauschte irritiert? Was war das für ein regelmäßiges Klopfen? Dann begriff sie und schoss förmlich von ihrem Lager hoch. Es taute! Sie griff hastig nach einem Schal und lief zur Tür. Ungewohnt warme Luft und ein strahlend blauer Himmel empfingen sie. Und es tropfte. Von allen Dächern.
Marle holte tief Luft. Auf zittrigen Beinen ging sie ein paar Schritte, drehte sich, sah sich um. Überall standen die Menschen und sahen in den Himmel. Allen stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Der Winter war endlich, endlich vorbei. Auch wenn es noch einen halben Mond brauchen mochte, bis die Gefahr endgültig gebannt war und die Frostgeister sich für den Sommer zurückgezogen hatten, sie konnten jetzt wieder Hoffnung schöpfen.
Marle dachte an das, was sie würde tun müssen. Aber nicht heute. Zuerst gab es andere Dinge zu regeln.
Nachher.
Marle blieb reglos stehen, schloss die Augen und bot ihr Gesicht den warmen Sonnenstrahlen und dem sanften Talwind dar.
Es gab Widerstand gegen ihre Anweisungen. Nicht, dass Marle mit etwas anderem gerechnet hätte. Die Sippenfrauen weigerten sich rundweg, Ganen als letztes Ort Kirsitans zu verlassen und das Land damit endgültig aufzugeben.
„Die Hornstachler sind alle fort“, sagte Marle nur. „Wir wissen, dass wir uns ohne sie nicht ausreichend gegen die Frostgeister wehren können.“
„Wir werden neue bekommen diesen Sommer. Die Schwangeren sind fast so weit.“
„Aber sie werden keinen Grund haben, den Winter über bei uns zu bleiben. Und es wird keine neuen Drachenbruten bei uns geben.“
„Deine Schuld!“, zischte die Frau.
„Meine Schuld“, stimmte Marle mit gesenktem Kopf zu. Dann sah sie hoch, sah die Frau an. „Aber hättest du anders entschieden als ich? Ich wusste es nicht besser. Keiner von uns wusste es besser. Nur, dass ich die Verantwortung trage und du nicht.“
„Vielleicht bleiben die neuen Hornstachler ja doch. Jedenfalls weigere ich mich, ohne zwingende Notwendigkeit von hier fortzugehen.“
„Ein Kompromiss, Duka“, warf die alte Betha ein. „Lass uns bis zur Sommersonnenwende warten. Bis die Kinder Graus geboren wurden. Bis wir wissen, ob sie bei uns bleiben werden.“
„Gut“, sagte Marle nach kurzem Nachdenken. „Wir warten solange. Aber sollte auch nur ein einziges dieser Wesen vorher verschwinden, tun wir, was ich gesagt habe. Und wir tun es dann sofort. Wir können es uns einfach nicht leisten, allzu lange zu warten.“
Sie hoffte, dass sie sich irrte. Oh, wie sehr sie das hoffte! Aber Marle war sich ziemlich sicher, dass ihre Hoffnung sich nicht erfüllen würde. Und so sandte sie Botschaft an die nach Karapak evakuierten Mitglieder ihres Volkes, vorerst – und vielleicht auch für immer – in jenem fremden Land zu bleiben.
Als Antwort kam unerwarteter Besuch.
Zu sagen, dass Marle erstaunt war, wäre eine Untertreibung gewesen. Die karapakische Burgherrin, allein, ohne ihren Gatten, in Ganen? Noch dazu mit ihren beiden Söhnen?
Reglos hörte sie zu, was Taephe ihr zu erzählen hatte. Und mit jedem Wort der karapakischen Frau spürte Marle ihre Schuld schwerer lasten.
„Grau hätte dich beschützt“, sagte sie. „Dich und deine Kinder. Wenn er noch bei euch gewesen wäre. Du hättest nicht hierher fliehen müssen.“ Sie senkte den Kopf. „Es ist meine Schuld, dass Grau euch verlassen hat.“ Und sie erzählte ihrerseits Taephe, was in diesem Winter in Kirsitan geschehen war.
Als sie fertig war, seufzte Taephe. „Vielleicht hätte ich nicht fliehen müssen. Aber mein Gatte wäre dennoch tot. Und bei allem, was du getan oder nicht getan hast, war es Unwissenheit und nicht Absicht, die dich dazu gebracht hat. Wie soll ich dir zürnen? Die Götter haben es so gewollt.“
„Das sehen die Drachenherren anders.“
„Die Drachenherren sind keine Menschen. Sie denken nicht so wie wir. Sie können sie wahrscheinlich nicht einmal vorstellen, was es bedeutet, ein so kurzes Leben wie das unsere zu haben. Ich jedenfalls werde dir keinen Vorwurf machen.“
Marle nickte müde. „Ich selbst mache mir Vorwürfe. Viele der Sippenfrauen tun es ebenfalls. Aber ändern können wir nichts mehr. Und ich fürchte, wir werden Ganen tatsächlich ebenfalls evakuieren müssen. Bis dahin kannst du natürlich als mein Gast bleiben. Und danach – ich denke, wenn Tolor uns aufnimmt, kommt es auf eine Frau und zwei Kinder mehr auch nicht an, selbst wenn diese aus Karapak stammen.“
„Und wenn Tolor euch nicht aufnimmt?“
„Dann gehen wir über die Berge in die Wüste. Die Wüstenkrieger können auch nicht unerbittlicher sein als die Drachenherren. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit mein Volk überlebt.“
„Und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, dass meine Söhne überleben.“
Die beiden Frauen sahen sich an und erkannten verwandte Geister.
*
Taephe erschloss sich eine neue Welt. Eine Welt, in der Frauen nicht nur gleichberechtigt waren, sondern hochangesehene Führerinnen ihrer Sippen. Eine Welt, in der Frauen wie selbstverständlich Waffen trugen und kämpften. Und in der es die Frauen, und alleine die Frauen, waren, die entschieden, mit welchem Mann sie das Lager teilen wollten. Die kirsitanischen Exilfrauen in der Burg hatten ihr davon erzählt. Aber es erzählt zu bekommen und es selbst zu erleben, das war zweierlei.
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