Es gab Sirit einen Stich, wie immer, wenn sie die Mehme-Nase sah, die Ähnlichkeit, die er mit Tolioro hatte. Wie immer versuchte sie, stattdessen seinen Großvater Kanata in ihm zu erkennen. Oft gelang es ihr. Aber nicht immer. Auch Tolioro hatte seinem Vater sehr ähnlich gesehen.
„Es ist das Wetter. Du weißt doch, dass mir der Regen nicht bekommt.“
Inagoro zuckte mit den Schultern. „Wir brauchen ihn. Ohne Regen gibt es keine Ernte.“
Sirit nickte stumm.
Inagoros Finger trommelten auf das Holz des Schemels. Überrascht stellt Sirit fest, dass ihr Sohn nervös war. Was, bei der Göttin, gab es Wichtiges, das er sich nicht traute, ihr zu erzählen? „Gibt es Neues aus den Bergen?“, fragte sie beklommen.
„Nein, nichts.“
Inagoro wirkte irgendwie geistesabwesend.
„Aus Tolor?“
„Da scheinen sie mit den Frostgeistern klarzukommen. Haben wohl jetzt ausreichend Zauberer-Unterstützung.“
Soviel hatten Botschafter Timpkos Briefe ihr bereits angedeutet.
„Was ist es dann, was dich so bedrückt?“
„Ich bin seit der Sonnenwende König.“ Inagoro sah überall hin, bloß nicht zu ihr. „Der Thronrat will, dass ich umgehend heirate. Sie sagen, die Erbfolge muss sichergestellt werden.“
Sirit hätte um ein Haar aufgelacht. Das war es also, was ihren sonst so mutigen Sohn so verschreckte. Die Aussicht, dass er eine Königin bekommen würde. Und in der Folge Kinder, natürlich. „Wen haben sie dir denn vorgeschlagen?“
Inagoro hob den Kopf und sah sie endlich wieder an. „Da wir durch mich jetzt ohnehin Zaubererblut auf dem Thron haben, sind eine Menge Restriktionen weggefallen. Jetzt sind praktisch alle Adelshäuser mit im Spiel.“
„Und?“
„Sie haben mir Ketere vorgeschlagen. Die Familie hat mindestens vier Töchter, die für mich infrage kämen. Oder Phukai. Die Enkelin des Herzogs ist zwar erst elf, aber mir wurde versichert, dass die Frauen der Phukai früh fruchtbar werden.“
Sirit zog zischend die Luft ein. Das roch zehn Tagesritte gegen den Wind nach Schwierigkeiten. Die Ketere waren durch Heiraten mit Herzog Komato verbunden. Und damit mit Mauro, der seinerzeit so plötzlich verstorben war, und der über seine väterliche Linie einen zwar schwachen, aber unbestreitbaren Thronanspruch gehabt hatte. Sirit spürte noch immer, wie ihr Blut kochte, wenn sie nur an Mauro dachte. Jemand aus dieser Familie mit freiem Zugang zu Inagoro? Dann würde sie keine ruhige Nacht mehr haben.
Phukai war auch nicht viel besser. Skadene, der alte Herzog, hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er mehr Macht wollte. Und mehr Land. Am besten in Narkassia, an das Phukai angrenzte. Wenn Inagoro eine Frau aus dieser Familie bekam, dann konnte Skadene in aller Ruhe einen Krieg vom Zaun brechen. Egal, wie berechtigt oder unberechtigt dieser Krieg war, Inagoro würde dem Großvater seiner Gemahlin Waffenhilfe nicht verweigern können. Ihr Sohn wusste das so gut wie sie.
„Dir ist so klar wie mir, Mutter, dass ich die Vorschläge des Thronrates nicht einfach ablehnen kann. Ich müsste schon einen verdammt guten Grund dafür haben. Und den habe ich leider nicht.“
„Lass mich überlegen.“
Sirit starrte in die Flammen des Kohlebeckens. Der Regen prasselte noch immer. In der Ferne hörte sie Donnergrollen. Hätten die Götter nicht noch etwas warten können, bevor sie ihr neue Steine in den Lebensweg legten?
Moment mal. Genau das war doch die Lösung!
„Ich habe auch keinen Rat anzubieten. Aber vielleicht jemand anderes. Diejenige, die bereits bei deiner Krönung eingegriffen hat.“
Inagoro zuckte zusammen. „Die Priesterin? Warum sollte sie?“
„Weil“, sagte Sirit sanft, „ganz offensichtlich den Götter von Anfang an etwas an dir gelegen war.“
*
Sirit betrat den Tempel der Flussgöttin mit sehr gemischten Gefühlen. Hier hatte sie mit ihrem Kind Zuflucht gefunden, damals. Ganz geheuer war er ihr deswegen trotzdem nicht.
Die Priesterin stand mitten im Tempel, als ob sie Sirit erwartet hatte, und breitete einladend die Hände aus. „Willkommen im Haus der Flussgöttin, Tochter der Drachenberge.“
Sirit neigte zum Gruß den Kopf. „Ich danke dir für das Willkommen. Es scheint, du hast mich bereits erwartet?“
Die Priesterin lächelte. „Diene ich nicht derjenigen, die durch die Zeiten sieht?“
Sirit lief es kalt über den Rücken. Die Priesterin hatte soeben ihren Verdacht bestätigt. Sie und Inagoro waren nichts weiter als Figuren in einem Spiel, dessen Dimensionen sie nicht einmal ahnen konnte. Aber Göttin oder nicht, Sirit war nicht bereit, sich einfach als Figur gebrauchen zu lassen. Und ihren Sohn schon gar nicht. „Dann weißt du auch, warum ich gekommen bin.“
Die Priesterin lächelte noch breiter. „Du suchst eine passende Frau für deinen Sohn.“
„Solltest du eine kennen? Oder muss ich fragen, ob die Göttin eine bestimmte Kandidatin befürwortet?“
„Ist das nicht dasselbe?“
Sirit antwortete nicht.
Das Lächeln verschwand vom Gesicht der Priesterin. „Komm mit mir, Tochter der Drachenberge. Wir werden uns ein wenig unterhalten müssen.“
Die Gemächer der Priesterin hatten sich nicht verändert. Was das anging, hatte sich auch die Priesterin nicht verändert, trotz der Jahre, die seitdem vergangen waren und die schwer auf Sirit lasteten. Warum war ihr das nicht schon früher aufgefallen?
Sirit beantwortete sich diese Frage selbst. Weil sie wenig mit den Priestern zu tun hatte, und sie nur selten den öffentlichen Zeremonien beiwohnte. Es gab eine weitere Bevölkerungsgruppe, die ähnlich alterlos war. Die Zauberer. Aber die Priester waren keine Zauberer. Oder etwa doch?
Die Priesterin ließ ihr Zeit.
Ihre Augen. Das Geschenk einer Zauberin. Sirit fiel ein, dass die Priesterin nie auch nur im Geringsten vor ihren Spiegelaugen zurückgeschreckt war.
„Welches Interesse haben die Tempel an der zukünftigen Frau meines Sohnes?“, fragte sie bedächtig.
„Keines. Die Frau interessiert uns nicht. Im Grunde interessiert uns auch dein Sohn nicht.“
„Aber ...?“
„Die Generation, die nach ihm kommt. Eine Generation, die nirgendwo in Karapak überleben wird, wenn das Blut der Drachenberge nicht wieder den Thron beherrscht.“
„Das kannst du auch einfacher sagen. Entweder ein Zaubererkönig kommt auf den Thron, oder Karapak wird ausgelöscht.“
Die Priesterin lächelte schmallippig. „Meine Version klingt besser.“
Dieser Tempel war der Flussgöttin geweiht. Und die Flussgöttin sah den Zeitenstrom. Die Priesterin hatte damals auch gewusst, was Sirit viele Monde später brauchen würde, um Inagoros Anspruch auf den Thron zu beweisen. „Du hast die Zukunft gesehen.“
„Eine Zukunft von vielen möglichen.“
„Reicht es nicht, dass bereits mein Sohn Zaubererblut hat?“
„Das Drachenblut fließt nur als winziges Rinnsal in Inagoro. Er braucht die passende Frau, dass es in seinen Nachkommen zu einem Strom wird, der Karapak tragen kann.“
„Wen schlagen die Tempel also vor?“
„Nur dieser Tempel. Die anderen sähen es lieber, wenn der Palast schwach bliebe. Aber sie sehen nicht, was ich sehe, und sie wissen es. Sie werden mich nicht unterstützen, aber sie werden sich auch nicht gegen den Rat meiner Göttin stellen. Ich schlage vor, dein Sohn sucht sich seine Frau in den Grauen Schluchten.“
Sirit zuckte zusammen. „Das ist nicht dein Ernst! Die Vorschläge des Thronrates waren schlecht. Aber deiner ist tödlich.“
„Nicht für Inagoro. Auch für dich nicht. Nur für die Frau, die dein Sohn in sein Bett holen wird.“
Sirit holte zittrig Luft. „Und du … bist sicher? Ganz sicher? Es gibt keine andere Möglichkeit?“
Die Priesterin beugte sich vor und legte Sirit zwei Finger auf die Stirn. Ihre Finger waren kalt wie das Flusswasser der Berge. Um sie herum waberte die Luft. „Es gibt tausend andere Möglichkeiten, Tochter der Drachenberge. Aber bei jeder dieser anderen Möglichkeiten stirbt entweder dein Sohn sehr bald, oder Karapak wird vernichtet, oder beides.“
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