Dies war nicht der Sommerharem. Wo, bei der Göttin, war er?
Langsam kehrte seine Erinnerung zurück. Sein Vater, König Kanata, war tot. Er selbst hatte ihn getötet. Und dies hier, das war ein Zelt der Wüstenkrieger. Er war bei seinen Todfeinden. Und er litt unter den Nachwirkungen eines einzigen Tagesrittes mit eben diesen Wüstenkriegern. Wenn seine weitere Zukunft sich ähnlich gestalten würde ...
Die Frau holte eine weitere Schale. Eine Art Körnerbrei war darin und ein Löffel. „Du musst etwas essen”, sagte sie freundlich.
Ioro löffelte gehorsam.
Die Zeltklappe bewegte sich. Ein kleiner dunkler Lockenkopf schob sich herein. Das musste das Kind sein, das ihn vorhin angestupst hatte. Ioro lächelte vorsichtig. Der Junge schlüpfte ins Zelt und sah ihn mit großen Augen an. Er mochte acht oder neun Regenzeiten zählen. Wieder sagte die Frau etwas in der fremden Sprache. Der Sprache der Wüstenstämme, wie Ioro verspätet feststellte. Und jetzt, wo er sich darauf konzentrierte, bekam er auch mit, was sie sagte. „Sei höflich, starr unseren Besucher nicht so an!”
Zurück zu Ioro gewandt, fügt sie auf Karapakisch hinzu: „Er kennt leider nur wenig von meiner Sprache. Er lebt erst seit wenigen Monden bei mir.”
„Er ist nicht dein Sohn?”, fragte Ioro verdutzt.
„Er ist der Sohn der Schwester meines verstorbenen Mannes”, gab die Frau zurück. Sie musste wohl die Fragezeichen in Ioros Augen erkannt haben, denn sie fuhr fort: „Die Schwester meines Mannes ist zu den Kriegern gegangen. Es ist Sitte hier, dass Kinder immer zu den nächsten weiblichen Verwandten gehen, wenn ihre Eltern die Zelte verlassen.”
„Aha”, murmelte Ioro. Merkwürdige Sitten. Warum schickten sie die Kinder nicht zu ihren nächsten männlichen Verwandten? Aber zunächst brannte ihm eine ganz andere Frage auf dem Herzen. „Wo hast du so gut Karapakisch gelernt? Ich höre kaum einen Akzent!”
Die Frau lächelte. „Ich bin Karapakierin von Geburt, aus dem Dorf Motogawitere.”
Ioro starrte sie entgeistert an. „Karapakierin? Aber … wieso lebst du dann hier? Und wie lange lebst du hier schon? Bist du eine Sklavin?”
„Hier gibt es keine Sklaven”, sagte die Frau. Es klang, als ob sie sich darüber freute. „Keine Sklaven, und keine Diener, und keine Männer, die über das Leben einer Frau bestimmen. Wenn du’s genau wissen willst, ich war in Motogawitere verheiratet, mit einem Bauern, seit ich fünfzehn war, und zwei Jahre später hatte ich zwei Kinder von ihm geboren, die beide ihr erstes Lebensjahr nicht überlebten, weil ich zu wenig Milch für sie hatte. Dann kam eines Tages einer der Wüstenreiter ins Dorf, um etwas Eisen zu erhandeln, und sah mich an. Und ich hatte das Gefühl, dass dieser Mann der einzige weit und breit war, der mich nicht als Zuchtvieh sah oder als Arbeitstier, der wirklich eine Frau, eine begehrenswerte Frau in mir sah. Ich versteckte mich außerhalb des Dorfes. Und als er auf dem Rückweg vorbeikam, trat ich seinem Pferd in den Weg und sagte ihm, dass ich mit ihm reiten wollte. Er nahm mich ohne ein Wort zu sich auf den Pferderücken. So habe ich meinen wahren Mann kennengelernt. Er hat mir dieses Zelt genäht und es mir geschenkt. Und seitdem lebe ich hier.”
„Hast du nie versucht, zurückzukehren?”
„Wozu?” Die Frau schien aufrichtig erstaunt. „Hier geht es mir besser, als es mir in Karapak je ging. Ich werde geachtet, kann frei entscheiden, was ich tun will und wo ich leben möchte, und das Leben ist sehr viel schöner und unbeschwerter als in Motogawitere.”
„Hat es denn niemanden hier gestört, dass dein Mann eine Karapakierin mitbrachte als seine Frau?”
„Weshalb sollte es?”, fragte die Frau zurück. „Viele hier in den Zelten stammen aus Karapak. Frauen und auch Kinder. Wenn die Krieger der roten Zelte nach Karapak einfallen, töten sie höchstens die Männer. Die Frauen und Kinder lassen sie leben, und wer immer es möchte, ist in ihren Zelten willkommen und wird in ihr Volk aufgenommen.”
So also hatte der Schamane das gemeint. Die Wüstenstämme töteten wirklich keine Frauen und Kinder. Aber an der Grenze hatte er tote Frauen und Kinder gesehen. Und nicht gerade wenige. Wer, wenn nicht die Wüstenstämme, hatte sie dann getötet?
Darüber konnte er später nachdenken. Zunächst einmal hatte Ioro ein ganz anderes, viel akuteres Problem. Und wegen dem würde er garantiert nicht die Frau fragen. Jetzt kamen ihm seine Kenntnisse aus dem Wüstenfeldzug zupass. Ioro wechselte zu der Sprache der Wüstenstämme und wandte sich an den Jungen. „Ich hab das Gefühl, meine Blase platzt fast”, sagte er. An dem breiten Grinsen des Jungen konnte er sehen, dass der ihn gut genug verstand. „Zeigst du mir bitte, an welchem Ort ich mich erleichtern kann?”
Der Junge nickte beflissen und sprang hoch. Ioro folgte ihm, langsam, vorsichtig, mit immer noch schmerzenden Muskeln und steifen Gelenken.
Eine Unterhaltung unter Zauberern
Der Schamane sah zu dem Zeltpfahl herüber. Der Falke saß reglos darauf und döste in der Sonne. Es wurde Zeit für eine ernsthafte Unterhaltung, von Zauberer zu Zauberer.
*
„Du-im-Falken, wach auf!”
Jo öffnete ein Auge. Dann das zweite Auge. Direkt vor ihm befand sich ein Gesicht. Ein ihm durchaus bekanntes Gesicht.
„So lernen wir uns also endlich näher kennen”, sagte der Schamane.
Jo blinzelte. Er schlug mit den Flügeln. Das heißt, er wollte mit den Flügeln schlagen. Aber da waren nur Arme.
Wieso Arme? Warum war er wieder in Menschengestalt? Wo war er?
Jo sah sich um. Sand, eine glatte, endlose Fläche grauer Sand. Darüber ein ebenso grauer Himmel.
Nein, das war nicht die reale Welt. Der Schamane musste ihn in eine Spiegelwelt gelockt haben. Aber hatte der Schamane nicht zu Ioro gesagt, er würde keine Spiegel benutzen?
„Dies ist keine Spiegelwelt.”
Konnte der Schamane Gedanken lesen?
„Natürlich lese ich deine Gedanken. So, wie du meine Gedanken liest. Wir sind in einer Gedanken-Welt, genauer gesagt, in einem Traum. Meinem Traum.”
„Wie komme ich in deinen Traum?”
„Ganz einfach.” Der Schamane lächelte. „Ich habe dich gerufen. Eine ganz primitive Prozedur. Der Vogel schlief, und du hast geträumt. Es ist ziemlich einfach, einen Träumer zu rufen.”
„Könnte ich”, fragte Jo langsam, „meinerseits auch ohne Spiegel jemanden in meine Träume rufen?”
„Das könntest du”, bestätigte der Schamane. „Wenn du weißt, wie.”
„Könntest du … es mich lehren?”
„Warum sollte ich das tun? Ihr Spiegel-Zauberer habt mehr als genug Unheil über diese Welt gebracht. Weshalb sollte ich einen Spiegel-Zauberer irgend etwas lehren?”
„Weshalb hast du mich gerufen, wenn du mich nichts lehren willst?”
„Die Runde geht an dich.” Der Schamane lächelte wieder. „Du bist wirklich ein intelligenter Junge.”
„Also weshalb bin ich hier?”
„Ich möchte dir ein Geschäft vorschlagen. Sozusagen einen Dienst auf Gegenseitigkeit.”
Jo wartete.
„Du benötigst einen Weg, deiner Gefangenschaft zu entgehen. Schau nicht so verblüfft, ich weiß, dass du in einem Spiegel gefangen bist. Deine Signatur brüllt es ja förmlich heraus.
Und ich benötige einen Weg, die zweite Kristallkammer zu vernichten.”
„Was?”, fuhr Jo auf. „Die zweite Kristallkammer? Es gibt noch eine andere?”
„Du hast doch bestimmt von dem Aufstand gegen die Kristallkammer gehört.”
„Ja, allerdings.”
„Die Aufständischen wurden vernichtend geschlagen, damals. Aber einige von ihnen überlebten. Ich vermute, du hast das bereits aus erster Hand erfahren.”
„Ja”, bestätigte Jo. „Es waren fremde Zauberer, die mich in einen Spiegel schlossen.”
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