„So etwas wie ein winziges Stück der Essenz der Flammenden Göttin. Die Lichtkeimträger sind Auserwählte.”
„Du klingst nicht besonders froh darüber.”
„Auserwählte der Götter zu sein, fordert manchmal einen hohen Preis. Bei den meisten schläft der Lichtkeim, solange sie leben. Er erwacht nur dann, wenn sich eine Katastrophe anbahnt. Wenn er erwacht, werden die Auserwählten zu Lichtaugen, ihre Magie wird stärker als alles, was du dir vorstellen kannst.”
„Was ist daran so schlimm?”
„Es brennt sie aus. Die Lichtaugen werden vom Feuer der Göttin verzehrt.”
Dieses Mal unterbrach Jo das Schweigen nicht wieder.
Es dauerte keine zwei Tage, bis Jo Eishaar Rat anwenden musste. Zwei Tage, in denen er wieder und wieder um Ruhe, Aufmerksamkeit und Konzentration bitten musste, zwei Tage, in denen die Kinder immer frecher und aufmüpfiger wurden. Schließlich riss ihm der Geduldsfaden. „Der nächste von euch, der nicht gehorcht, wird es bitter bereuen!“, verkündete er finster. Die Jungen und Mädchen tauschten irritierte bis belustigte Blicke. Aber für einen Moment waren sie tatsächlich still. Jo hegte schon Hoffnung, dass es gutgehen würde.
Nein. Natürlich tat es das nicht. Plötzlich brannte etwas in seinem Nacken. Er wischte mit der Hand und etwas Magie dahinter. Eine kleine Feuerkugel wurde weggeschleudert. Gerade noch rechtzeitig, es stank schon nach angesengtem Haar.
„Wer war das?“
Schweigen.
„Wenn ihr meint …“ Jo konzentrierte sich auf die Feuerkugel. Es war leicht zu sehen, mit wessen Aura sie in Verbindung stand. Marisi. Mit ihren noch nicht ganz acht Wintern war die Kleine jetzt schon stärker als mancher Blaue bei Meister Go. Er sah nicht hin, folgte nur der Energiespur, als die Feuerkugel zu ihrer Schöpferin zurückflog. Und als er bei der Kleinen war, griff er nach seinem Arbeitsspiegel.
Marisi starrte ihn an, eher verblüfft als beängstigt. Dann berührte der Spiegel sie. Ihr Ausdruck wechselte von Verblüffung zu Schrecken und weiter zu nackter Panik, während sie vergeblich gegen den Sog des Spiegels kämpfte. Ihr entsetzter Schrei brach in einem langgezogenen, hohen Wimmern ab, während ihr Körper sich verdrehte, auflöste und in den Spiegel gezogen wurde.
Dann war Marisi fort, der Spiegel um das Dreifache gewachsen.
„Das hier“, sagte Jo schroff und hob den Spiegel, so dass er für alle gut sichtbar war, „ist jetzt kein Arbeitsspiegel mehr. Es ist ein Seelenspiegel. Marisis komplette Energie ist jetzt darin, Seele wie Körper. Jedes noch so kleine Stück von ihr. Und wer immer von euch sich jetzt noch einmal muckt, kann ihr darin Gesellschaft leisten.“
Ein erschrockenes Aufkeuchen lief durch die Schülerreihen.
Jo ging zurück zu seinem Lehrpult. „Eigentlich solltet ihr das erst sehr viel später lernen. Aber da ich nun schon einmal einen Seelenspiegel in der Hand habe, werde ich euch zeigen, was die Unterschiede zwischen Seelen- und Arbeitsspiegeln sind und wie man sie benutzt.“
Bevor der Tag zu Ende ging, hatte Jo so gut wie alle Gegenstände im Raum in ihrer Substanz gewandelt. Holz zu Stein, Stein zu Metall, Papier zu Stoff … Alles, was viel Energie fraß. Der Spiegel war kleiner und kleiner geworden. Bei der letzten Umwandlung, als er sein Tintenfass in Gold wandelte, löste der Spiegel sich endgültig auf.
Niemand in der Gruppe rührte sich. Alle sahen ihn mit fast ängstlicher Spannung an.
„Marisi?“, fragte Koik schließlich. „Wo ist sie? Wann kommt sie wieder?“
„Sie ist nirgends“, sagte Jo hart. „Sie war in diesem Spiegel. Und wie ihr seht, habe ich den Spiegel verbraucht. Sie ist fort, für immer, nichts ist von ihr übrig.“
Ein kollektives Aufstöhnen. Koik zuckte sichtlich zusammen. Offenbar begriff er, dass er selbst nur ganz knapp an diesem Schicksal vorbeigeschrammt war.
Danach hielten die Kinder Disziplin.
Jo sah Füs traurige Augen, als er ihr davon erzählte. An jenem Abend konnte er nicht einschlafen. Wieder und wieder stand das Geschehen vor seinen Augen. Wenn es bloß nicht ausgerechnet Marisi gewesen wäre. Sie war eine der Bravsten gewesen, ein fröhliches, fast immer lachendes Kind. Warum musste es ausgerechnet sie sein? Warum nicht Koik oder ein anderer aus seiner Bande?
Aber Jo kannte die Antwort. Dass es Marisi getroffen hatte, war im Grunde für seine Zwecke ideal. Jetzt wussten alle Schüler, dass die angedrohten Konsequenzen stattfanden, egal, wen sie trafen. Dass weder früheres gutes Benehmen noch persönliche Zuneigung ihren Lehrer beeinflussen würde. Und dass sie Jo zu fürchten hatten.
So, wie er früher Meister Go gefürchtet hatte.
Jo fühlte, wie sich sein Magen umdrehte. Er schaffte es gerade noch bis zum Abort.
Der dünnste und jüngste der Laren stützte sich schwer auf den Kartentisch. „Es dauert mir zu lange! Können wir endlich losschlagen?“
„Willst du eine vollkommene Rache, oder nicht?“, fragte der Älteste missbilligend. „Jetzt haben wir schon so viele Jahrhunderte gewartet. Kommt es da wirklich auf ein oder zwei Jahre mehr an?“
„Und wenn die Drachenherren misstrauisch werden?“
„Weshalb sollten sie? Sie sind es gewohnt, dass die Menschen auch von alleine dazu neigen, sich gegenseitig kräftig Schwierigkeiten zu machen. Sie werden nichts merken, solange wir weiterhin um ihre direkten Aufenthaltsorte einen großen Bogen machen.“
„Aber sie haben neue Bruten.“
Der Andere lächelte kalt. „Ja. Und wie wir alle wissen, hängt der Termin ihres Schlüpfens von den Südwinden ab. Diese Winde aber werden vorerst nicht kommen.“
Jetzt beugten sich die vier anderen gemeinsam über den Kartentisch und studierten die Energielinien.
„Raffiniert!“, kommentierte schließlich einer von ihnen. „Und es sieht fast vollkommen natürlich aus. Sie werden keinen Verdacht schöpfen und einfach weiter warten.“
„Während wir unser Netz in Ruhe erweitern.“
Der erste Lare lehnte sich zufrieden zurück. „Wenn wir dann zuschlagen, haben sie keine Chance mehr. Der Plan ist brillant.“
„Ist ja auch von mir“, kommentierte der Älteste.
Und so wuchsen die Fäden weiter. Langsam, vorsichtig, fein dünn, unbemerkt. Fäden spannen sich durch Tolor, in die Eisberge, zu den Nordleuten, in die Randgebiete Karapaks. Fäden wanden sich durch die grauen Schluchten und durch Kirsitan. Fäden orteten und umzingelten die Bruttäler der Drachenherrn. Aber kein einziger Faden tastete sich hinab in diese Täler, so wenig, wie sie Ganen berührten oder Shioges Burg oder Tolor-Stadt. Die Drachenherrn erhielten keine Warnung.
1032
Die Ruhe vor dem Sturm
Tief unten im Süden, noch hinter den Drachenschwanzbergen, warf der Schamane der Wüstenstämme die Runenknochen. Er sah auf das Ergebnis, zuckte zusammen. Dann warf er die Knochen erneut. Aber das Ergebnis änderte sich nicht.
Ob die Zauberer in Karapak darum wussten? Vermutlich nicht, sonst wären sie sicher schon längst in panische Betriebsamkeit verfallen.
Ob er sie warnen sollte?
Unsinn. Der Schamane rief sich zur Ordnung. Er hatte mit Karapak nichts zu schaffen. Im Gegenteil, wenn die Zaubererbrut draufging, war das für ihn nur ausgleichende Gerechtigkeit. Aber sein Volk durfte auf keinen Fall darin verwickelt werden. Das war schon einmal geschehen, und sie hätten es fast nicht überlebt. Der Schamane konnte bis heute die Panik nicht abschütteln, die er damals gespürt hatte. Sein Volk musste geschützt werden, um jeden Preis. Er rief die Anführer aller Stämme zusammen.
Keiner der Wüstenkrieger verweigerte sich einem Aufruf des Schamanen. Allerdings war auch keiner von ihnen begeistert über das, was er ihnen sagte. Die Blicke reichten von mürrisch bis trotzig. Der Schamane stampfte mit seinem Stab auf den Boden.
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