Ihre nächste Schwangerschaft hatte auf sich warten lassen. Jetzt wuchs zwar wieder ein Kind in ihr, aber dieses Kind würde, wie Okes erstes Kind, mitten im Winter in der schlimmsten Frostgeisterzeit, geboren werden. Taephe hatte ein verdammt ungutes Gefühl. Winterkinder standen unter keinem guten Stern.
Ala versuchte, ihre Mit-Gattin zu beruhigen. „So ein Unglück wie dieser Feuerwind wird ganz bestimmt nicht wieder passieren. Der neue Schamane wird aufpassen. Ganz sicher. Es ist ja auch vorher noch nie passiert.“
Aber Taephe hatte dunkle Träume.
Der Winter schritt voran. Die Tage ohne Sonne kamen. Und an einem solchen Tag, als der Tag aus nichts bestand als einigen Stunden grauer Dämmerung, wurde das Kind geboren. Die Geburt war leicht, das Kind zart und klein. Es war wieder eine Tochter. Eine Tochter, die ihre Mutter aus großen, nachtschwarzen Augen ansah, mit einem Wissen und Erkennen, das überhaupt nicht zu einem Neugeborenen gehörte.
Oke sah auf das Kind, das seine älteste Frau Ala auf den Armen trug. Ala hielt das Kind nicht an ihre Brust gepresst, wie sie es mit allen Kindern sonst gemacht hatte, bei deren Entbindung sie zugegen gewesen war. Es war, als wollte sie es nicht mit ihrem Körper berühren.
Oke war verunsichert. Was war mit dem Kind? Was stimmte nicht? Hatte Taephe ihn betrogen?
Nein. Das Kind hatte jene kleine, ein wenig verwachsene Kerbe am linken Ohr, die fast alle seine Kinder von ihm geerbt hatten.
Waren die Frauen besorgt, weil es schon wieder ein Mädchen war? Oke hatte fast ein Dutzend Söhne. Da verkraftete er wohl auch noch eine weitere Tochter.
Er stupste das Kind vorsichtig mit dem Finger an. Es schlug die Augen auf. Oke fuhr entgeistert zusammen.
Eindeutig sein Kind. Aber es hatte tief nachtschwarze Augen. Augen, die es eigentlich nicht hätte haben dürfen. Oke sah verstohlen zu Taephe hinüber. Nicht einmal ihre Augen waren so dunkel. Wo kam diese Dunkelheit her?
Ihn schauderte.
So ein Kind wollte er nicht an seinem Feuer. Er könnte es töten. Es lag in der Hand eines Vaters, über seine Kinder zu entscheiden.
Aber würden die Götter das gutheißen?
Oke entschloss sich, den Göttern das Urteil zu überlassen. Er nahm das Kind samt dem Schaffell, in das die Frauen es eingewickelt hatten, und trug es hinaus, in die Kälte, in den Schnee. Weit fort vom Dorf, bis an den Rand des kleinen Wäldchens.
Taephe weinte nicht, als er zurückkam. Aber ihren Blick würde er so schnell nicht vergessen.
In dieser Nacht schliefen weder Oke noch Taephe.
*
Im Wald gingen Raubtiere um. Tiere auf vier Beinen, Tiere auf zwei Beinen. Die auf zwei Beinen waren schneller.
Der Eismann witterte. Es roch nach Kind. Sehr jung, es musste gerade erst geboren worden sein. Es kam vor, dass diese Stämme Kinder aussetzten, besonders im Winter, wenn so, wie jetzt, der Frost das Land beherrschte und nicht sehr viel zu essen da war. Der Eismann hatte keine Einwände. Fleisch, das keine anstrengende Jagd erforderte, war immer gut. Aber vielleicht war das eine Falle.
Er pirschte sich vorsichtig an den Waldrand, witterte wieder. Nichts. Nur der Geruch des Kindes. Ein warmer Geruch, es musste noch leben, aber es gab keinen Laut von sich. Er glitt näher. Das Kind lag ganz still. Wer auch immer es hier abgelegt hatte, hatte es zuvor in ein warmes Fell gehüllt. Nicht schlecht, so ein Fell war immer nützlich. Fleisch und ein fertig gegerbtes Fell. Seine Frau würde sich freuen.
Der Eismann überquerte die letzte Mannslänge Schnee, die ihn noch von dem Kind getrennt hatte, und hob den Dolch. Das letzte, was er brauchte, war lebende Beute, deren Geschrei ihn verraten konnte.
Das Kind öffnete die Augen und sah ihn an.
Der Eismann starrte das Kind an.
Dunkelauge!
Dann senkte er den Dolch.
Der Eismann nahm das Kind, vorsichtig, als sei es zerbrechlich wie sprödes Eis, schob es unter seinen Umhang und eilte so schnell er konnte zurück zu seinem Stamm.
*
Oke ging nachsehen am nächsten Morgen. Der Schnee verriet ihm, was geschehen war. Die Spuren waren deutlich genug. Eisleute. Als er zurückkam, teilte er es Taephe mit. Nur dieses eine Wort, mehr war nicht nötig. Jedermann hier wusste, was die Eisleute mit denen taten, die in ihre Hände fielen.
Taephe beherrschte sich mühsam. Vor den Ohren ihrer Mit-Gattinnen würde sie nicht mehr klagen über Okes Tochter als seinerzeit über Okes im Feuerwind verbrannten Sohn.
Sie ging hinaus. Weit hinaus. Und dann schrie sie.
1030
Eine Tochter verloren, eine Tochter gewonnen
Als der Frühling kam, teilt Taephe ihrem Mann mit, dass sie ihre Tochter nach Kirsitan bringen würde. Sie hätte dort noch ein Versprechen einzulösen. Oke zog den Kopf ein wenig ein, sagte aber nichts. Er gab ihr zwei Dutzend Männer als Begleitung mit und etliche schwer bepackte Ponys. Seine Tochter würde nicht als mittellose Bittstellerin in Ganen auftauchen.
Taephe war sich nicht sicher, wie die Sippen sie aufnehmen würden. Immerhin war sie bereits vor sechs Jahren fort gegangen und hatte seither nichts mehr von sich hören lassen.
Aber sie hätte sich keine Sorgen machen müssen.
Sieben Tagesritte vor Ganen trafen sie auf die ersten Hirten. Was immer die für ein Signalsystem besaßen, danach wusste jedenfalls jeder, auf den sie trafen, bereits Bescheid. Als sie Ganen erreichten, wartete ein großer Pulk Frauen bereits auf sie, an ihrer Spitze eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen. Das musste die neue Duka sein. Und neben ihr standen Betha und Inana. Beide lebten noch! Taephe rollte ein zentnerschwerer Stein vom Herzen. Betha lachte über das ganze Gesicht. Inana breitete ihre Arme aus. Dann fühlte Taephe ihre herzliche Umarmung und wusste, sie war wieder zuhause.
„Natürlich kann Nitiri bleiben. Eine Tochter meiner Schwester ist auch meine Tochter.“ Inana nahm die Kleine auf den Schoß. Nitiri schnupperte an ihr wie ein kleines Hündchen und lehnte sich dann zufrieden an sie. „Spricht sie unsere Sprache?“
„Ich habe ihr im letzten Winter Kirsitanisch beigebracht. Nicht besonders gut, fürchte ich, denn es ist ja auch nicht meine Muttersprache. Aber Kinder lernen schnell.“
„Du hast ihr einen Namen in unserer Sprache gegeben.“
„Als ich ging, sagtest du, dass meine Tochter jederzeit meinen Platz an deinem Herdfeuer einnehmen kann. Ich hatte schon am Tag ihrer Geburt das Gefühl, dass sie hierher gehört.“
Inana legte einen Finger unter das Kinn des Mädchens und drehte sanft ihren Kopf so, dass Nitiri sie ansah. „Kleine Tochter, hat deine Mutter dir gesagt, dass auch ich deine Mutter bin?“
Nitiri nickte ernst.
„Und du weißt, dass du bei mir leben sollst?“
Wieder ein Nicken.
„Willst du denn auch bei mir leben?“
Nitiri steckte einen Finger in den Mund und dachte angestrengt nach. „Mama hat gesagt, du hast mehr Zeit für mich. Und mehr Geschichten.“
Inana wartete geduldig.
„Ich glaube, ich will hierbleiben.“
Die beiden Mütter sahen sich an und lächelten. Taephes Lächeln war durchsetzt von Trauer.
Kira sah die Handschrift der Schicksalsgöttin. Sie hatte alle Kinder mit Drachenblut fortschicken müssen. Und nun kam eine Frau, die ihre Vorgängerin seinerzeit als Schwester aufgenommen hatte, und schenkte ihnen eine Tochter, die über die Blutlinie ihres Vaters das alte Blut erneut in das Volk Kirsitans brachte. Nitiri war so viele Generationen von den ersten Drachenblütigen entfernt, dass ihr Blut keine Gefahr bedeutete. Sie und ihre Nachkommen würden das magische Erbe der Berge wieder in den Sippen erwecken.
Natürlich war sie trotzdem neugierig, was die Karapakierin dazu bewogen hatte, ihre Tochter ausgerechnet nach Kirsitan zu geben. Taephe erzählte es ihr.
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