„Er hat deine zweite Tochter einfach ausgesetzt?“ Kira war entsetzt. Konnte es wirklich Völker geben, denen das Leben einer Tochter so wenig bedeutete?
„Die Nordleute denken anders als wir.“ Taephe sah die Duka nicht an. „Es war Okes Recht als Vater, über das Leben seiner Tochter zu entscheiden. Was das angeht, hätte er genauso über das Leben eines Sohnes entscheiden können.“
„Wie kannst du das so hinnehmen?“
„Ich stamme aus Karapak. Da sind die Gesetze ähnlich. Die Väter entscheiden, wer in die Familie aufgenommen wird. Nur die Väter. Niemals die Frauen.“
„Wie grässlich! Jeder weiß doch, dass Kinder ein Teil ihrer Mütter sind!“
Taephe sah sie immer noch nicht an. „In Karapak glauben die meisten, dass die Frauen nur ein Gefäß für den Samen des Mannes sind.“
„Glauben die im Norden das auch?“
„Danach habe ich Oke nie gefragt.“
„Glaubst du das?“
Jetzt sah Taephe endlich auf. „Ich habe es geglaubt, bis ich nach Kirsitan kam.“
„Hast du deswegen deine Tochter zu uns gebracht? Damit sie am Leben bleibt?“
„Ihr Leben war nicht in Gefahr. Oke hat sie anerkannt. Ein anerkanntes Kind würde er niemals aussetzen. Im Gegenteil, er würde sie mit Zähnen und Klauen bis zum letzten Atemzug verteidigen. Einmal abgesehen davon, dass auch Ganen kein Leben garantiert, mit all den Frostgeistern in den Bergen. Nein, ich habe meine Tochter hierher gebracht, damit sie niemals in die gleiche Situation kommt wie ich. Dass andere über das Leben ihrer Kinder entscheiden.“
Taephes Stimme klang so traurig, dass Kira unwillkürlich die Hand nach ihr ausstreckte. Sie zog sie hastig wieder zurück, als hätte sie sich verbrannt. In Taephes Augen tanzten die Flammengeister.
„Was ist?“, fragte Taephe erstaunt.
„Nichts …“ Kira stand auf. „Ich habe beinahe vergessen, dass ich noch etwas Dringendes erledigen muss.“ So schnell sie konnte, verließ sie das Sippenhaus.
Am Abend, bevor Taephe wieder in den Norden aufbrach, sprach Kira mit Inana. „Du wirst deine Freundin und Sippenschwester nie wiedersehen.“
Inana sah sie verunsichert an. „Aber es klang nicht so, als ob ihr Mann sie daran hindern würde.“
Kira suchte nach den richtigen Worten. „Inana, über deiner Sippenschwester tanzen bereits die Flammen.“
Inana zuckte zusammen. Als sie sich abwandte, sah Kira in ihrem Gesicht verzweifelte Auflehnung. Traurig sah sie der davoneilenden Frau nach. Es schien ihr zunehmend eher ein Fluch als ein Segen, dass die Flammengeister mit ihr sprachen.
Taephe steckte einen hinreichenden Vorrat des Tees ein, dessen Gebrauch Hinen ihr damals empfohlen hatte. Sie war sich keineswegs sicher, dass Oke ihr erlauben würde, eine eventuelle dritte Tochter ebenfalls nach Ganen zu bringen. Da war es wohl besser, sie bekam überhaupt keine Kinder mehr.
Inana weinte, als sie sich von ihr verabschiedete. Nitiri, die erst jetzt begriff, dass sie sich tatsächlich von ihrer Mutter trennen musste, ebenfalls. Nach der letzten Umarmung floh Taephe förmlich. Auch wenn ihre Tochter noch lebte, sie gehörte ihr jetzt nicht mehr. Sie war halb blind vor Tränen, als sie auf das Pony kletterte. Die Nordmänner, die die weinenden Frauen nur mit einem etwas spöttischen Grinsen quittiert hatten, waren immerhin freundlich genug, sie während des ganzen langen Rittes zurück nicht mehr auf dieses Thema anzusprechen.
Oke verkniff sich ebenfalls jeden Kommentar. Er musterte nur schweigend die leeren Tragtaschen der Ponys und den leeren Kindersattel, griff dann nach seinem Jagdbogen und verließ das Haus. Es dauerte fast fünf Tage, bevor er zurückkam.
Nitiris Name wurde in Okes Familie nie wieder erwähnt.
Wie erzieht man einen Zauberer?
„Schule, immer nur Schule. Steck dir deine langweilige Schule sonstwohin!” Der Junge grinste Jo spöttisch an, bevor er zur Tür hinausflitzte. Kein unnormales Verhalten für einen halbwüchsigen Gassenjungen. Aber ein sehr unnormales Verhalten für werdende Zauberer.
Bevor der nächste sich ihm anschließen konnte, packte Jo den Bengel mit hartem Griff im Nacken und schleifte ihn eigenhändig zurück an seinen Tisch. „Du lernst!”, knurrte er und sah sich mit finsterem Blick um. „Und ihr anderen auch! Und was Koik angeht, den werde ich mir nachher vorknöpfen!” Seine Hand brannte wie Feuer. Diese Kinder hatten bereits jetzt Tricks drauf, von denen er in seinem ganzen Leben noch nichts gehört hatte. Und das schlimmste war, sie hatten sie nicht einmal lernen müssen. Diese Drachenbrut konnte das einfach so. Wie sollte ein Zauberer Kinder erziehen, die bereits ohne Ausbildung stärker waren als er selbst?
Am Abend diskutierte er die missliche Situation mit Eishaar.
„Die frisch Geschlüpften brauchen Disziplin. Sie lernen sie nicht von alleine”, dozierte der Drachenherr. „Das ist bei euren Jungen nicht anders als bei unseren.”
„Du hast gut reden”, murrte Jo. „Bei dir parieren sie. Du bist stärker.”
„Na und? Stärker sein alleine besagt überhaupt nichts. Du hast ihnen jahrelange Erfahrung voraus.”
„Deswegen kann ich sie immer noch zu nichts zwingen.”
„Tu´ ihnen weh. Pack sie da, wo sie es merken.”
„Und was sollte das schon sein?”
„Wenn dir der nächste von ihnen querkommt, mach´ ihn zu einem Spiegel.”
Jo starrte Eishaar entgeistert an. „Zu … einem Spiegel? Ist das dein Ernst?”
Eishaar zuckte mit den Achseln. „Du hast drei Dutzend frisch geschlüpfte, undisziplinierte Zauberer. Wenn du kein völliges Chaos willst, musst du ihnen zeigen, dass du es ernst meinst. Nur dann werden sie bereit sein, von dir zu lernen, was sie zum Überleben brauchen.”
„Zum Überleben?”
„Seit wann bist du so schwer von Begriff? Was glaubst du, was passiert, wenn du diese kleinen Zauberer so auf die Welt und sich selbst loslässt? An so etwas sind schon ganze Städte zugrunde gegangen.”
Jo schluckte. Dachte an seine eigene Zeit im Spiegel. Und dann daran, dass die Spiegel kein Gefängnis für ewig sein mussten. „Gut, ich denke, einige Zeit in einem Spiegel könnte dem einen oder anderen wirklich nicht schaden.”
„Falsch!”, fauchte Eishaar. „Du musst sie auch verbrauchen!”
Jo konnte fühlen, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich.
Eishaar deutete seine Reaktion richtig. „Du bist zu weich geworden hier in Tolor. Denk an das, was du gelernt hast. Es hat verdammt gute Gründe, weshalb deine Zaubererkollegen auf einer so harten Ausbildung bestehen. Ein Zauberer, der keine Disziplin lernt, ist wie eine offene Flamme in einer Pulverkammer. Und der einzige Weg, diese Disziplin nicht nur zu lernen, sondern auch zu verinnerlichen, ist Härte.”
„Aber … Fü?”
„Fü ist ein Sonderfall.” Eishaar fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ehrlich gesagt, so jemand wie Fü ist mir in meinem ganzen Leben vorher nicht untergekommen. Und ich lebe schon verdammt lange, wie du weißt.”
Jo nickte stumm.
„Fü kann nicht hart sein. Das wäre völlig gegen ihr Naturell. Dieser Teil der Ausbildung unserer Jungzauberer wird also an dir hängenbleiben. Fü … Fü ist etwas Besonderes. Ich weiß nicht, warum die Götter sie geschaffen haben, aber sie hat etwas, das ich noch bei keinem Menschen zuvor gesehen habe. Sie trägt einen Lichtkeim in sich.”
„Lichtkeim? Was ist das?”
„Früher, als es noch mehr Windschwingen gab, hatten wir immer ein oder zwei Träger des Lichtkeims unter uns. Heute … Vielleicht sind wir einfach zu wenige. Und vielleicht sind die Menschen jetzt zahlreich genug, dass so ein Lichtkeim endlich auch einmal bei euch erscheint.”
Das Schweigen zog sich. Endlich hakte Jo noch einmal nach.
„Was ist ein Lichtkeim?”
Читать дальше