Im Juli 1973 kam meine Tante Ingrid sehr aufgeregt zu meiner Mutter. Tante Ingrid war eine der beiden Schwestern meines Vaters. Sie wohnte mit ihrer Familie ebenfalls in Steinhausen und arbeitete im Kuhstall als Melkerin. Es war eine harte Arbeit, wie Mutter in anerkennender Weise bemerkte, und für unsere Dorfverhältnisse war sie auch gut bezahlt.
Ihr Mann, Onkel Günter, ein oftmals mürrisch und für mich als Kind beängstigend ernst blickender Mann, arbeitete seit einigen Jahren auch in der LPG. Sie hatten vier Kinder, und auch wenn die Lebensumstände der Familie für mich immer den Anschein von Anderssein hatten, so fühlte ich mich bei den zahlreichen Begegnungen doch wohl.
Tante Ingrid war die ältere der beiden Schwestern von Vater und hatte ein gutes Verhältnis zu ihrem Bruder.
Durch das etwas holprige und in der Betonung anders gesprochene Deutsch im Vergleich zu den anderen Leuten, die ich kannte, war schnell klar, dass die Familie meines Vaters nicht aus der Gegend stammte. Mutter erzählte mir viele Jahre später, wie sie meinen Vater kennengelernt hat und wie seine Familie überhaupt in das verschlafene Mecklenburg gekommen ist.
Es war eine Geschichte, die wohl in dieser Art nur in widrigen Zeiten, wie einem Krieg, entstehen konnte.
Als Deutschstämmige verschlug es die Familie irgendwann in grauer Vorzeit nach Litauen. Der Arbeit wegen ging Tante Ingrid 1942 in eine Anstellung als Kindergärtnerin auf ein Gut namens „Stolpe“ nach Ostpreußen und lernte dort den zu dieser Zeit verheirateten Günter Wagner kennen, der als Verwalter auf diesem Gut arbeitete.
Im Laufe der Zeit, als sich beide näherkamen und die Ehe von Onkel Günter aufgelöst wurde, holte Tante Ingrid die Eltern und die Schwester nach Ostpreußen nach.
Mein Vater war zu dieser als Soldat im Krieg. Die Ostfront schob sich 1943/44 schnell Richtung Deutschland, und somit mussten alle in Richtung Westen fliehen.
Onkel Günter als Verwalter hatte den Zugriff auf Pferde und Pferdewagen und begann, die Flucht in Richtung Westen vorzubereiten. Im Laufe des Jahres 1944 kamen alle in Mecklenburg an und machten in Benz, nahe Wismar, Halt und blieben dort auch bis zum Kriegsende. 1945 zog die Familie meines Vaters nach Neuendorf um und fand beim Schmiedemeister Klein eine Unterkunft.
Familie Maier wohnte zu dieser Zeit auch in Neuendorf.
Opa Maier kam in den dreißiger Jahren aus der Schweiz nach Mecklenburg und kam irgendwie zufällig in dieses verschlafene Dorf, wo die Familie meiner Mutter seit Generationen lebte.
Auch Jahre später, in wiederkehrenden Gesprächen, in denen ich meine Mutter über die Gründe des Umzugs ihres Vaters von der Schweiz nach Mecklenburg befragte, blieb für mich unklar, wo seine Motivationen für diesen drastischen Ortswechsel lagen, zumal er aus einer intellektuellen Familie stammte, die Ärzte und Dozenten hervorbrachte. Der Wechsel hinein in eine ländliche und zu dieser Zeit deutlich einfacher strukturierte Lebensweise blieb mir unerklärbar.
Im Sommer 1947 kam mein Vater aus einem Lazarett in Königs Wusterhausen und somit letztendlich aus dem Krieg zurück und fand seine Familie schließlich in Neuendorf wieder.
In meiner Fantasie musste die Verbindung meiner Eltern zwangsläufig gewesen sein. Mutter war 16 und Vater 23, es war wohl Liebe auf den ersten Blick, denn wir, meine Schwester und ich, konnten viele Jahre das blinde Vertrauen und den Willen, nur zusammen etwas aufzubauen und zu leben, spüren.
Die Dinge nahmen dann sehr schnell ihren Lauf. 1951 gab es den ersten Umzug als unverheiratetes Paar in das gemeinsame Zuhause beider in Neuendorf-Ausbau, einer kleinen Siedlung am Rande des Dorfes. Schon im darauffolgenden Jahr wurde geheiratet und ein weiteres Jahr später erfolgte der Umzug nach Steinhausen, meinem Heimatdorf.
Mutter fragte sofort, was den los sei. Tante Ingrid verkündete, dass ihre Tochter Petra in den Westen geflohen sei.
Die Fluchthilfe war in den siebziger Jahren ein sehr aktuelles Thema, das auch uns Kindern durch die negative und anklagende Berichterstattung im DDR-Fernsehen und auch durch Gespräche im Umfeld bekannt war.
Diese Nachricht verschlug Mutter die Sprache, und ihr war anzusehen, dass sie viele Fragen angesichts dieses unglaublichen Risikos für Leib und Leben hatte. Fragen, wie:
„Wann und auf welche Art und Weise?“, „Wo sind sie jetzt, geht es ihnen gut?“ und natürlich, „Was wird Onkel Horst dazu sagen, und welche Auswirkungen hat das für ihn und Margot, und was wird aus Hans?“
Petra war anders als die Mädchen im Dorf. Sie sah nicht nur gut aus, sondern sie wusste auch um die Wirkung ihres Aussehens.
Es war klar, dass Petra nicht den beruflichen Weg ihrer Mutter als Melkerin gehen würde. Sie arbeitete zielsicher auf eine andere Zukunft hin, und es sollte ihr mit der Hilfe von Onkel Horst, dem Mann von Tante Margot, auch gelingen.
Onkel Horst, gelernter Tischler, führte es frühzeitig in die Politik, und so arbeitete er als Arbeitervertreter in der Kreisleitung der SED in Wismar, später dann als hoher Funktionär in der Einheitsgewerkschaft, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, kurz FDGB genannt.
Tante Margot arbeitete zu dieser Zeit auch in Wismar, als Kindergärtnerin, und so liefen sie sich irgendwann über den Weg und blieben zusammen. Später zogen sie nach Rostock, wo Onkel Horst dann schnell zum zunächst stellvertretenden Vorsitzenden des FDGB aufstieg.
Meine Cousine Petra bekam mit Hilfe von Onkel Horst eine Stelle als Sekretärin beim FDGB und wohnte auch im mittlerweile neu erbauten Eigenheim von Onkel Horst im Südwesten von Rostock.
Viel mehr war über das Leben von Petra bei uns nicht bekannt. Eines Tages lernte sie einen Zahnarzt kennen und heiratete ihn.
Es passte für uns in das Bild einer Frau, die es geschafft hatte, dem Dorfleben zu entfliehen und zumindest in eine andere Gesellschaftsschicht aufzusteigen, die es nach offizieller Lesart eigentlich ja gar nicht gab, die aber real existierte, wie der real existierende Sozialismus selbst.
Meine Eltern bemerkten nur manchmal etwas enttäuscht, dass manche auch im Arbeiter- und Bauernstaat gleicher sind als andere. Dies insbesondere, wenn Onkel Horst mal wieder auf einer seiner Gewerkschaftsreisen ins kapitalistische Ausland war und Tante Margot bei irgendeinem Besuch so tat, als wenn das alles nur unangenehme Pflichtaufgaben wären.
In diesen Momenten spürte ich, dass es mehr gab, als der im Wesentlichen unmaterialistische Alltag in meiner Familie offenbarte. Meine Eltern waren bereit, hart für unseren kleinen Wohlstand zu arbeiten, aber die unmittelbare Konfrontation, mit der zwar nicht zugegebenen, aber doch erkennbaren primär materialistischen Welt meines Onkels führte für mich spürbar zu Verstimmungen.
Auf der anderen Seite war durch die gleiche politische Grundüberzeugung auch ein gewisser Stolz zu erkennen, dass es jemand aus der unmittelbaren Verwandtschaft so weit gebracht hat. Onkel Horst vermied es nach meinem Gefühl bewusst, diesen vorhandenen und theoretisch nichtexistierenden Klassenunterschied erkennbar zu machen, gelingen konnte es ihm nicht. Schwager hin oder her, seine politische Stellung reichte aus, dass alle heuchlerisch so taten, als wenn kein Westfernsehen geguckt wurde, obwohl alle Westfernsehen guckten, er eingeschlossen.
Diese Unehrlichkeit im Umgang miteinander war nicht gut, und diese Heuchelei sollte Jahre später auch ein Grund sein, die zu den großen Veränderungen in unserer kleinen DDR führte.
Der Sympathie, die er ausstrahlte, tat das alles aber keinen Abbruch. Es brachte diesen Widerspruch auf eine persönliche Ebene, die das Grundsätzliche dieser Klassenteilung bedeutungsloser machte. Die Besuche bei seiner Familie in Rostock waren in meiner kleinen Welt immer eine Abenteuerreise, und das war in diesem Moment für mich genug.
Читать дальше