Im Kulturhaus, wo ich Vater bei der Kampfgruppe so gerne besucht hatte, gab es neben der Gaststätte auch einen Tanzsaal. Dieser erstreckte sich über die gesamte Rückseite des Kulturhauses und hatte zusätzlich auf halber Länge einen weiteren Eingang, der auf eine Terrasse führte und zusätzlich über eine Freitreppe zu erreichen war und neben dem Eingang auch eine gute Sicht durch die weiteren Fenster auf beide Seiten des Eingangs ermöglichte.
Irgendwann wurden wir darauf aufmerksam, dass jeden Samstag eine Band aus dem Dorf zum Tanz aufspielte, und so dauerte es auch nicht lange, bis wir uns regelmäßig die Nasen an den Fensterscheiben plattdrückten, um zu sehen, wie die jungen und älteren Erwachsenen sich amüsierten.
Im Saal war nicht nur während der Musik ein Höllenlärm, sondern vor allem, wenn die Musiker Pause machten. Dann liefen die Leute kreuz und quer durcheinander, ob zu dem Tresen, zur Toilette oder zum Reden mit dem Nachbarn. Es wurde immer lauter, bis die Band die Aufmerksamkeit wieder auf die Tanzfläche lenkte und die Herren sich aufmachten, die Damen zum Tanz zu bewegen. Dies wiederholte sich so oft, wie die Band Pause machte und nahm an Intensität ständig zu.
Das Tanzen schien gar nicht immer so einfach zu sein, denn anscheinend wollte nicht jede Frau mit jedem Mann tanzen. Die Frau war hier eindeutig die, die das Sagen hatte.
Die Männer bauten sich vor der Auserwählten auf und schienen bittend zu fragen, ob sie tanzen möchte. Eine Einwilligung führte dann sofort zum Gang auf die Tanzfläche, spannend wurde es, wenn die Frau nicht wollte.
Ganz so schnell aufgeben wollten die Wenigsten, zumal der ganze Saal die Situation beobachten konnte. So wurde einmal und noch einmal gefragt oder manchmal auch versucht, körperlich etwas nachzuhelfen. Im schlimmsten Fall zogen die Herren beleidigt und peinlich berührt von dannen.
Saß der Mann oder Freund mit am Tisch, musste der auch noch vorher gefragt werden. Das war auch manchmal spannend.
Hier war schon klar, dass das in Zukunft nicht so einfach werden würde, denn diese Rituale würden sicher immer die gleichen bleiben, da war ich mir sicher.
Im Laufe des Abends wurde es wilder, denn viele waren betrunken und verstanden dann nicht mehr, wenn jemand nicht tanzen wollte, oder fühlten sich von anderen provoziert oder wollten einfach ihren Frust ablassen oder kamen einfach nicht aus unserem Dorf, sondern aus einem anderen.
Das war dann die Zeit der Faustkämpfer, und da hatten wir einige.
Ich erzählte meiner Mutter von meinen Beobachtungen über die Versuche und das Misslingen einiger tanzwilliger Männer, eine Frau zum Tanzen zu bewegen. Diese Szenen waren ihr nicht neu.
Es gab aber anscheinend einen deutlichen Unterschied zu der Zeit meiner Eltern. Gab seinerzeit eine Frau einem Mann einen Korb, dann musste diese den Saal verlassen.
Das ist gut, dachte ich mir, denn meine Fantasie reichte aus, mir die Peinlichkeit vorzustellen, einen Korb zu bekommen und anschließend wie ein Idiot auf den Platz zurückzugehen. Ich nahm mir vor, das nicht zu erleben, aber die Rechnung hatte ich ohne die Mädchen gemacht.
Es vergingen noch ein paar Jahre, aber dann war es so weit, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Unsere ersten Aktivitäten fielen Mitte der siebziger Jahre in die Übergangsphase zwischen Tanzkapelle und Disco.
Irgendwann während der sechsten Klasse begann die Sturm- und Drangphase. Wir suchten nach Möglichkeiten, uns in einem Rahmen zu treffen, der genau zur Befriedigung unserer Bedürfnisse in dieser Phase passte, und da kam die Diskowelle gerade recht.
Michael war nicht nur der Sohn vom Direktor, sondern hatte genau zur richtigen Zeit den Drang, Diskjockey zu sein. Dieser Drang konnte jedoch nur mit der entsprechenden Technik befriedigt werden, die er natürlich nicht hatte. Mein alter Spielkamerad aus Cowboy- und Indianerzeiten in Steinhausen hatte den gleichen Drang und dazu auch die selbstgebaute Technik für Ton und Licht.
Unser Duo war gefunden.
Der Raum war nur noch Formsache, und so trafen wir uns regelmäßig zur Disco. Es war wie auf einem anderen Stern, das bunte Licht tauchte alles in eine Zauberwelt und die Musik von Karat, City und Lift aber auch aus den Charts aus dem Westen, wie den Village People, Santa Esmiralda, den Bee Gees, Gerry Rafferty und unendlich vielen mehr ließen uns alles vergessen.
Wir lernten von den Mädchen die ersten Tanzschritte und warteten auf die langsamen Titel, bei denen wie selbstverständlich ganz eng getanzt wurde. Wir spürten die Brüste der Mädchen und die Mädchen spürten uns, und so folgten erste Berührungen, erste Küsse und erste Auseinandersetzungen um die Richtige.
Das ging eine ganze Zeit so herrlich entspannt weiter, bis sich unsere Veranstaltung herumgesprochen hatte. Dann kamen vollkommen uneingeladen auch die Jungs aus den oberen Klassen, und da war die Freude dann nur noch halb so groß und ging irgendwann vorbei.
Wir waren als Jungs einfach nicht mehr so interessant und verstanden das nicht. Die Mädchen schienen uns in ihrer Entwicklung davonzulaufen. Das war für den Moment betrüblich, aber im Laufe der Zeit würden wir die älteren Jungs sein und dann von dieser Laune der Evolution genauso profitieren. Da waren wir zwangsweise ganz pragmatisch.
Die kleine Klassendisco mutierte zur Schuldisco und wurde in die Turnhalle verlegt. Dort war zwar deutlich mehr Platz, aber es blieb eben eine Turnhalle mit ihrer eigenen „Gemütlichkeit“. Was soll‘s, das eingespielte Duo übernahm die Musik, und es ging nahtlos weiter.
Mir fiel seit einiger Zeit ein Mädchen auf, das mit ihrer Freundin in jeder Pause ihre Runden auf dem Schulhof drehte. Dünn wie eine Bohnenstange und eigentlich zu jung, aber ich hatte mich in dieses Mädchen verguckt. Irgendwann erschien sie dann mit ihrer Freundin auf der Schuldisco, und meine Chance war da.
Ich hatte seit den ersten Tanzversuchen eine Art Tanzvirus. Zuerst dachte ich bei meinen Beobachtungen einige Jahre zuvor mit platt gedrückter Nase an den Fensterscheiben am Kulturhaus in Steinhausen, dass Tanzen einfach zu den Fähigkeiten, die man so hat, dazugehören sollte und nutzte meine Schwester und Marion, meine gleichaltrige Untermieterin, als Tanzlehrerin.
Es war aber viel mehr und machte einfach Spaß. Die Möglichkeiten, die sich boten, um mit den Mädchen in Kontakt zu kommen, erkannte ich erst später. Wir konnten riechen und fühlen und reden und auch gleichzeitig eine Art inneren Rhythmus erleben, der in kürzester Zeit einen entscheidenden Eindruck brachte, ob überhaupt ein nächster Schritt Sinn machte.
Ein Mädchen namens Kerstin hatte meinen inneren Rhythmus.
Manch andere Mädchen versuchten durch kleine Manipulationen, wie Brustvergrößerungen durch den Einsatz von Watte oder Stöckelschuhe oder etwas zu reichlich aufgetragene Gesichtsbemalung, die Außenwirkung deutlich zu verbessern. Kerstin hatte diesen Drang nicht, ein einfacher grüner Parka und Röhrenjeans für ihre Storchenbeine waren ihr genug.
Das war die Selbstverständlichkeit, die mich anzog, und so wollte ich unbedingt den nächsten Schritt machen und hatte Erfolg. Es war das gleiche Spiel wie zwei Jahre zuvor, nur, dass wir jetzt zu den älteren Jungs gehörten und die frühreifen Mädchen sich eher zu uns hingezogen fühlten.
Diese Laune der Natur nutze ich nun. Kerstin kam nicht aus unserem Dorf und musste jeden Tag mit dem Zug fahren. Ich konnte die Pausen nach den Schulstunden kaum erwarten, denn es blieb zunächst nur diese Zeit, um überhaupt Kontakt zu haben.
Es war von Anfang an klar: Wenn du jemanden willst, musst du dich richtig anstrengen, Rückschläge wegstecken und Geduld haben, die manchmal schwer zu zügeln ist und dich von allen anderen Dingen ablenkt. Gegen Anstrengung hatte ich ja nichts, und beim Fußball brauchten wir auch Geduld, bis der Gegner uns die Chance auf ein Tor bot, aber das hier war anders und lag nicht mal zur Hälfte in meinem Ermessen. Es gab aber keinen anderen Weg, und der Wille versetzt bekanntlich Berge.
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