Die politische Dimension dieses Wortes ‚Freiheit‘ spielte hier keine Rolle, war mit dem Hintergrund der sozialistischen Erziehung und der damit in Fleisch und Blut übergegangenen sozialistischen Ideologie gar nicht existent. Die Diskussionen, die wir im Staatsbürgerkunde-Unterricht führten und Fragen, die wir stellten, bekamen erst Anfang der achtziger Jahre eine andere, aber dennoch linientreue, politische Ausrichtung.
Die Hoffnung, dass der ausgebildete Staatsbürgerkunde-Lehrer dialektische Widersprüche, die uns das Westfernsehen nahezu jeden Abend servierte, beantworten konnte und wir mit einem zumindest guten Bauchgefühl den Unterricht verließen, war die bestimmende. Diese Hoffnung wurde auch lange Zeit befriedigt.
Die Steilvorlagen lieferte der Westen oftmals selbst, und so war es ein Leichtes, das „Unrechtssystem“ Westdeutschlands und damit das der kapitalistischen Welt zu erklären, aus den Lehren der großen kommunistischen Philosophen logisch herzuleiten und damit in einer Art Vision das Ende der im Wesentlichen moralisch verkommenen kapitalistischen Gesellschaft vorherzusagen und somit die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu beweisen.
Es war einfach schön, auf der gerechten Seite der großen Mauer zu leben, keine Verbrechen mit der Suche nach dem Mörder aus Aktenzeichen X-Y-ungelöst, kein schauriger Tatort-Vorspann mit gejagten Menschen, wir waren sicher.
In diesem Umfeld konnten wir uns auf die wichtigen Dinge des Lebens konzentrieren, Sport, Mädchen oder umgekehrt, und da war dann noch die Schule, anspruchsvoll aber beherrschbar, streng in disziplinarischen Dingen aber mit einem in der Summe harmonischen Schulleben. Leistungsorientiert durch die unausgesprochene allgegenwärtige Verpflichtung, das Beste aus sich herauszuholen und dennoch ohne aufgesetzten Leistungsdruck.
Wir brauchten nur gut zu sein, die Zukunft war bereitet. Dabei wurde uns geholfen, ob wir wollten oder nicht, und auch wenn bei dem einen oder anderen die Noten nicht ganz so gut waren, der Wille musste da sein und das war entscheidend.
Es war gar nicht gut, wenn die Kopfnoten, wie Betragen, Fleiß, Ordnung und Mitarbeit, im Keller waren. Faul und blöd als Kombination versprach eben kein harmonisches Schulleben.
Mit dieser sanften Kontrolle vergingen die Jahre, es kamen Fächer wie „Einführung in die sozialistische Produktion“, „Produktive Arbeit“ und „Staatsbürgerkunde“ hinzu, und ehe wir uns versahen, streiften wir das blaue FDJ-Hemd über und standen im gleichen Jahr vor der Jugendweihe.
Endlich in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen zu werden, das war in unserem Selbstverständnis auch höchste Zeit. Wir waren immerhin schon 14 Jahre alt.
Davor stand aber noch ein bisschen Theorie in zehn Jugendstunden über die Geschichte der Arbeiterbewegung, den Kampf der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und die Entwicklung des sozialistischen Gesellschaftssystems. Wir wurden zur Parteitreue angehalten und sollten die SED als notwendige Machtinstanz zur Sicherung von Frieden und Wohlstand anerkennen.
Und das alles in der Tradition von freireligiösen Vereinigungen und ganz in unserer atheistischen Tradition. Was wollten wir mehr? Nun standen wir in Wismar in der großen Sporthalle mit dem Buch „Der Sozialismus - Deine Welt“ in der Hand, und es war sehr feierlich, und ich begann mich irgendwie von einem Moment zum anderen erwachsener zu fühlen.
Das „Sie“ als Anrede war uns nun rechtlich verbrieft, und einige Lehrer nahmen das auch ernst und fragten zumindest, wie wir es nun gerne hätten. Das Wichtigste waren aber die erhofften Geschenke, die optimaler Weise in Form von Glückwunschkarten mit einem Schein versehen waren und sofort aufgerissen wurden.
Ein Moped oder ein Radio wäre für mich sonst ein ewiger Traum geblieben. Den Moped-Führerschein, der wegen des „Führer“ im Wort dann bald Moped-Fahrerlaubnis hieß, hatte ich schon in der Tasche und konnte mit dem Gongschlag zum fünfzehnten Geburtstag auf meinen neu erworbenen, aber gebrauchten gelben Simson S50 steigen.
Damit begann das wirkliche Erwachsensein und meine große bewegliche Freiheit. Alles wurde einfacher, die Fahrten zur Schule, zum Training, zu Verabredungen, und so verdichtete sich das Leben, und das gefiel mir gut. Ich war, wir waren in der Pubertät angekommen, wussten alles besser, konnten alles besser und fanden vieles einfach nur spießig.
Mit sich selbst nicht ganz klarzukommen ist das eine, aber diesen Zustand, der durch die Reiberein mit den Eltern, den Lehren, den Trainern und anderen zusätzliche Schwierigkeiten verursachte, konnte ich eigentlich gar nicht brauchen und meine Kumpels auch nicht.
Michael und ich hatten durch die Zimmer außerhalb der Wohnung auch beste Voraussetzungen, zur Entspannung der Lage beizutragen. Hinzu kamen die Möglichkeiten in Neuburg. Die Gemeinde stellte einen Anbau am alten Kindergarten für Jugendarbeit zur Verfügung.
So viel Weisheit war fast unglaublich. Wir hatten einen Platz, wir hatten die Möglichkeit, alles selbst zu gestalten und konnten unsere überschüssige Energie an uns selbst abarbeiten. Mehr Jugendarbeit ging aus unserer Sicht nicht.
Zumindest das soziale ‚Perpetuum mobile‘ gab es doch, wir führten den Beweis, auch wenn das Projekt nicht alle Probleme lösen konnte. So rauschten wir durch ein unbeschwertes Jugendleben und kamen der entscheidenden Wende Richtung Abschluss der zehnten Klasse immer näher und somit auch den schweren Orientierungen, wo die Reise eigentlich hingehen sollte. Die Beratungen sowie die Möglichkeiten waren dürftig, und das machte mir große Sorgen. Landwirtschaft war keine Option, Gastronomie auch nicht und ökonomische Richtungen waren Mädchensache. Es musste etwas technisch Anspruchsvolles sein, etwas, was auch nicht jeder konnte, eben etwas Besonderes. Dieser nebulöse Berufswunsch war nicht im Angebot und wenn nahe dran, wie bei der Schiffselektronik in Rostock, dann brauchte man Beziehungen, die ich nicht hatte. Aber manchmal, wenn es scheint, als wenn gar nichts weitergeht, kommt doch eine unerwartete Möglichkeit daher. In diesem Fall in Form eines noch zu errichtenden Düngemittelwerkes bei Rostock. Für den späteren Betrieb wurden unter anderem Leute gesucht, die für die Mess,- Steuer- und Regelungstechnik zuständig sein sollten. Das hörte sich besonders an, denn diese Ausbildung gab es recht selten und schien zudem noch zukunftsorientiert zu sein. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt wurde ja überall propagiert und war ausgehend vom Gesetz der Ökonomie der Zeit, so der Sprachgebrauch, notwendig, um den Aufwand an lebendiger Arbeit zu senken und zur Kombination materiell-technischer, subjektiver und organischer Bedingungen für hohe Arbeitsleistungen und günstige Entwicklungsmöglichkeiten beizutragen. Da gingen doch persönliche und gesellschaftliche Belange vollkommen zusammen. Das war es. Die Frage war bloß: Wo ist denn diese Ausbildung, wenn dieses Chemiewerk noch gar nicht fertig ist? Das war der Haken, der aber letztendlich keiner war, weil ich endlich mal von den Kochkünsten meiner Mutter und überhaupt aus dem alten Umfeld wegmusste und die Frage des „Wo“ gar nicht so wichtig war. Die Bewerbung war dann auch schnell geschrieben, und es stellte sich heraus, dass die neue Heimat in Sachsen-Anhalt liegen sollte. Soweit hätte es gar nicht sein müssen, dachte ich, aber da Michael auch nur diese Möglichkeit für sich sah, waren wir schon zu zweit und so war der Entschluss gefasst.
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