§ 1 Einleitung› B. Charakteristika des Arbeitsverhältnisses › III. Eingliederung in fremde Betriebsorganisation
III. Eingliederung in fremde Betriebsorganisation
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Der Arbeitnehmer wird typischerweise an dem vom Arbeitgeber vorgegebenen Ort in dessen Betriebsorganisation tätig. Aus dieser Eingliederungin eine fremdbestimmte Arbeitsstruktur resultieren besondere Schutzinteressendes Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber, v.a. hinsichtlich Leib und Leben (technischer Arbeitsschutz), Eigentum und Vermögen (z.B. muss der Arbeitgeber ggf. abschließbare Spinde zur Aufbewahrung von Wertsachen zur Verfügung stellen) sowie seinem Persönlichkeitsrecht (z.B. Schutz vor Mobbing). Darüber hinaus hat diese Eingliederung meist zur Folge, dass der Arbeitnehmer in einer Betriebsgemeinschaftim Zusammenwirken mit Kollegen tätig wird. Auch wenn zwischen den Arbeitnehmern keine vertraglichen Beziehungen bestehen, resultieren aus diesem notwendigen Zusammenwirken besondere Interessen- und Konfliktlagen (z.B. wer wann in Erholungsurlaub geht), auf die das staatliche Arbeitsrecht und/oder die Beteiligten (z.B. über einen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vereinbarten Urlaubsplan, vgl. § 87 I Nr. 5 BetrVG) eine Antwort finden müssen.
§ 1 Einleitung› B. Charakteristika des Arbeitsverhältnisses › IV. Strukturelles Machtungleichgewicht
IV. Strukturelles Machtungleichgewicht
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Die obigen Faktoren führen – insb. in ihrer Gesamtschau – dazu, dass sich der einzelne Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber typischerweise in einer strukturell unterlegenen Positionbefindet.[7] Das gilt zunächst bei Vertragsbegründung. Schon weil der Arbeitnehmer, jedenfalls meist, wirtschaftlich darauf angewiesen ist, diese bzw. zumindest irgendeine Arbeitsstelle innezuhaben, begegnen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer meist nicht auf „Augenhöhe“; oft ist zudem der Arbeitgeber juristisch besser vorgebildet und/oder die Arbeitsmarktsituation dergestalt, dass er die Wahl zwischen mehreren Bewerbern hat. Folge ist, dass er den Bewerber in Bezug auf die Arbeitsbedingungen oftmals vor die Wahl zwischen „friss oder stirb“ stellen kann. Damit aber fehlt es an einem – zumindest annähernden – Verhandlungsgleichgewichtals einer grundlegenden Voraussetzung einer Vertragsfreiheit, die sich nicht in einer formellen Betrachtungsweise erschöpft, sondern auf dem Prinzip echter Privatautonomiei.S.e. selbstbestimmten Entscheidung über Ob und Inhalt eines Vertrages beruht.
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Auch im weiteren Verlauf des Arbeitsverhältnisses ändert sich an dieser strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers in der Regel nichts. Während er aus Sicht des Arbeitgebers (meist) nur ein austauschbares „Rädchen im Getriebe“ ist, bleibt das Arbeitsverhältnis als Einkunftsquelle für den Arbeitnehmer essenziell. Typischerweise nimmt die Flexibilität des Arbeitnehmers (und damit seine faktische Möglichkeit, den Arbeitsplatz zu wechseln) im Laufe seines Berufslebens eher ab als zu. Wer bspw. ein Eigenheim erworben hat, wird meist nicht nur emotional an den Ort gebunden sein, sondern auch langfristig verschuldet – existiert dann kein anderer, geeigneter Arbeitgeber in pendelbarer Entfernung, ist der Arbeitnehmer faktisch an seinen jetzigen gebunden. Hinzu kommt, dass ältere Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz verlieren, oft Schwierigkeiten haben, überhaupt wieder Arbeit zu finden. Zusammengefasst kommt es auf dem Feld des Arbeitsrechts zu einem Versagendes im allgemeinen Zivilrecht gewöhnlich funktionierenden Markt- und Vertragsmechanismus.[8] Auch wenn das nicht ausnahmslos gilt, weil es (vereinzelt) Arbeitnehmer gibt, die aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten (z.B. Fußballstar, Einserjurist) oder spezieller Marktgegebenheiten (z.B. Fachkräftemangel) eine vergleichsweise starke Verhandlungsmacht gegenüber dem Arbeitgeber haben, erfordert diese Erkenntnis – jedenfalls in einem Sozialstaat – spezielle Schutzmechanismenzugunsten des Arbeitnehmers.
§ 1 Einleitung› C. Systematik des Arbeitsrechts
C. Systematik des Arbeitsrechts
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Während der gesamten historischen Entwicklung seit Entstehung des modernen Arbeitsrechts ab ca. Ende des 19. Jahrhunderts[9] wurde dieses Schutzbedürfnis des Arbeitnehmers auf zwei ganz unterschiedlichen, sich meist ergänzenden, in Teilen aber auch konfligierenden Wegen zu befriedigen gesucht: Der staatlichen Arbeitnehmerschutzgesetzgebungeinerseits, dem Selbstschutz durch Kollektivierung der Arbeitnehmerandererseits. Das materielle Arbeitsrecht ist also, mit anderen Worten, zweispurigaufgeteilt. Hinzu tritt das Verfahrensrecht:
(1)Das Individualarbeitsrechtentspringt der staatlichen (Arbeitnehmerschutz-) Gesetzgebung. Es umfasst das Arbeitsvertragsrecht und -schutzrecht. Das Arbeitsvertragsrechtist die Summe der (staatlichen) Normen, die sich mit dem Verhältnis zwischen einzelnem Arbeitnehmer und einzelnem Arbeitgeber beschäftigen. Es regelt v.a. Zustandekommen, Inhalt und Beendigung des Arbeitsverhältnisses und gehört zum Pflichtfachexamensstoff. Das – kaum examensrelevante – Arbeitsschutzrechtstatuiert öffentlich-rechtliche Pflichten für die Ausgestaltung von Betrieben, Arbeitsplätzen usw., um Gesundheit und Leben der Arbeitnehmer zu schützen. Das Individualarbeitsrecht ist konzeptionell heteronomes, den Arbeitsvertragspartnern und ihren kollektiven Interessenvertretern vorgegebenes Recht, mittels dessen der Staat den Rahmen vorgibt, innerhalb dessen sich die „player“ vor Ort bewegen können. Es entstand ursprünglich als Reaktion auf die sozialen Missstände im Gefolge der Industrialisierung und wurde – sieht man von der Phase des Dritten Reichs ab – im Laufe der letzten 130 Jahre sukzessive – meist zum Vorteil der Arbeitnehmer – ausgebaut.[10]
(2)Das weitgehend nicht examensrelevante Kollektivarbeitsrechtbeschäftigt sich mit den Rechtsbeziehungen zwischen dem Arbeitgeber und den kollektiven Interessenvertretern der Arbeitnehmer. Es umfasst das Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfrecht, in dessen Zentrum der von einer Gewerkschaft mit einem Arbeitgeber/-verband abgeschlossene Tarifvertrag(geregelt im TVG, näher Rn. 96 ff.) steht und für dessen Durchsetzung ggf. ein Arbeitskampf geführt werden kann. Daneben tritt das Mitbestimmungsrecht, das entweder über ein eigenständiges Gremium (i.d.R. den sog. Betriebsrat, geregelt im BetrVG) oder über eine Entsendung von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat (z.B. MitbestG) erfolgt. Das Kollektive Arbeitsrecht hat seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine wechselhafte Geschichte erfahren. Nach ursprünglicher – sogar strafrechtlicher (!) – Bekämpfung der Gewerkschaftsbewegung, erlebte die Tarifvertrags- und Betriebsräteidee Anfang des 20. Jahrhunderts einen Aufschwung, der Durchbruch erfolgte am Ende des 1. Weltkriegs. Wiederum unterbrochen durch die dunklen Jahre 1933 bis 1945 ist das Kollektive Arbeitsrecht seither nicht mehr aus der Arbeitswelt wegzudenken.
(3)Schließlich ist das v.a. im ArbGG geregelte Verfahrensrechtzu nennen, das die Organisation, Zuständigkeit und Verfahrensabläufe der Arbeitsgerichte als spezielle, von der allgemeinen Zivilgerichtsbarkeit unabhängige Gerichtsbarkeit zum Gegenstand hat. Die 1926 geschaffene Arbeitsgerichtsbarkeit wurde – nach Auflösung im Dritten Reich – nach dem Zweiten Weltkrieg in heutiger Form geschaffen.
Hinweis:
Das Arbeitsrecht wird durch das öffentlich-rechtliche Sozial(versicherungs)recht „flankiert“ und ergänzt. Wo der Schutz des Arbeitsrechts endet (weil bestimmte Lasten dem Arbeitgeber nicht aufgebürdet werden), greifen oft sozialrechtliche Mechanismen ein. Beispiele sind das Insolvenzgeld bei Insolvenz des Arbeitgebers (§§ 165 ff. SGB III) und die staatliche Förderung der Kindererziehung („Elterngeld“, §§ 2 ff. BEEG). Auch wenn der arbeitsrechtliche Fall daher in der Praxis nur mit sozialrechtlichen Grundlagenkenntnissen beraten werden kann, handelt es sich doch um eine eigenständige Rechtsmaterie, die deshalb im Folgenden weitgehend außer Betracht bleibt.
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