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3. Unselbstständige Tätigkeit in persönlicher Abhängigkeit
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Ist auf Basis der obigen Kriterien eine Abgrenzung zu den außerhalb der §§ 611 ff. BGB stehenden Vertragstypen erfolgt, ist die „Binnenabgrenzung“ zwischen Arbeitsvertrag und freiem Dienstvertrag(z.B. freier Rechtsanwalt) vorzunehmen. Sie erfolgt anhand des Kriteriums der unselbstständigen Tätigkeit in persönlicher Abhängigkeit, dessen Details nunmehr in § 611a I BGBnäher geregelt sind.
a) Weisungsgebundenheit, § 611a I 2, 3 BGB
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Ob jemand persönlich abhängig tätig wird, bestimmt sich traditionell v.a. anhand von zwei Hauptkriterien: Der Weisungsgebundenheit und der Eingliederung in eine fremdbestimmte Arbeitsorganisation (vgl. nunmehr auch § 611a I 1 BGB). Während ein Selbstständiger „im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann“ (vgl. § 84 I 2 HGB), kann dies ein persönlich Abhängiger gerade nicht (§ 611a I 3BGB). Was die Weisungsgebundenheit anbelangt, rekurriert § 611a I 2BGB in Anlehnung an § 106 GewO v.a. auf das fachliche(Tätigkeitsinhalt und Art und Weise der Ausführung), zeitliche und örtliche Weisungsrechtdes Arbeitgebers. Je stärker die Weisungsbindung ist, umso eher ist ein Arbeitsverhältnis anzunehmen.[9] Entscheidend ist nicht, ob das Weisungsrecht tatsächlich ausgeübt wird, sondern ob die rechtliche Möglichkeit hierzu besteht.[10] Überdies wird die Arbeitnehmereigenschaft nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Weisungsrecht im Hinblick auf einzelne seiner Bestandteile stark abgeschwächt ist (z.B. örtlich: der Arbeitnehmer ist frei, die Arbeit im Betrieb, zu Hause oder in einem Café zu erbringen), solange nur bei der gebotenen Gesamtbetrachtung ( Rn. 31) dennoch eine persönliche Abhängigkeit besteht.
b) Eingliederung in fremdbestimmte Arbeitsorganisation, § 611a I 1 BGB
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Daneben ist die Eingliederung in die fremdbestimmte Arbeitsorganisation i.S.e. sachlich-organisatorischen Abhängigkeitein maßgebliches Kriterium (§ 611a I 1 BGB). Auch wer inhaltlich/zeitlich vergleichsweise frei über seine Tätigkeit entscheiden kann, kann persönlich abhängig sein, weil er in die Arbeitsorganisation des Arbeitgebers (z.B. Tätigkeit an der Betriebsstätte des Arbeitgebers mit dessen Betriebsmitteln, Einordnung in Dienst-, Schichtpläne und/oder Urlaubspläne, Verpflichtung auf die Unternehmensziele und -methoden, Verpflichtung auf die betriebsüblichen Arbeitszeiten, Unterwerfung unter die Kontrolle des Arbeitsergebnisses durch den Arbeitgeber usw.) eingebunden ist.[11]
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In örtlicher Hinsichtsetzt die Arbeitnehmereigenschaft – insb. in einer flexibler werdenden Arbeitswelt – allerdings nicht zwingend voraus, dass die Arbeit im Betrieb des Arbeitgebers erbracht wird. Wichtig ist vielmehr, wer über den Arbeitsort entscheidet.[12] Arbeitnehmer kann auch sein, wer an stets wechselnden Einsatzorten (z.B. Monteure auf Baustellen, Versicherungsvertreter) arbeitet. Das gilt insb., wenn der Arbeitgeber vorgeben kann, wo und auf welche Weise der Arbeitnehmer an einem bestimmten Tag tätig sein soll.[13] Dagegen fehlt es an der Arbeitnehmereigenschaft, wenn dem Außendienstmitarbeiter nur ein grober Rahmen vorgegeben wird, innerhalb dessen er jeweils selbst entscheiden kann, wo, wann, gegenüber wem und wie er die Tätigkeit erbringt (z.B. selbstständiger Versicherungsvertreter, vgl. auch § 84 I 2 HGB). Auch wer von zu Hause aus tätig wird, kann Arbeitnehmer sein, v.a. bei sog. Tele-Arbeit im Homeoffice, insb. wenn für die Arbeitsleistung auf Arbeitsmittel des Arbeitgebers zurückgegriffen werden muss, eine ständige Online-Kommunikation mit ihm erfolgt und enge Erledigungsfristen gesetzt werden.[14]
c) Gesamtbetrachtung, § 611a I 5 BGB
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Maßgeblich für die Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände, § 611a I 5 BGB. D.h., dass anhand einer typologischen Methodeerstens kein abschließender Kreis an relevanten Kriterien besteht und zweitens keinem Kriterium absolute Bedeutung zukommt, sondern vielmehr alle Einzelaspekte nach den Umständen des Einzelfalls zu würdigen sind. Entsprechend kann ein für die persönliche Abhängigkeit sprechendes „Plus“ bei einem Kriterium ein „Minus“ bei einem anderen Kriterium ausgleichen mit der Folge, dass im Gesamtbild die für eine persönliche Abhängigkeit sprechenden Aspekte überwiegen.[15] Bspw. kann die Arbeitnehmereigenschaft auch zu bejahen sein, wenn der „Dienstleister“ Ort und Zeit der Tätigkeit weitgehend, d.h. innerhalb eines großzügig bemessenen Rahmens, selbst bestimmen kann, wenn er dafür aber genaue inhaltliche Vorgaben erhält und regelmäßigen Fortschrittskontrollen des Dienstberechtigten unterliegt. Umgekehrt ist bei hochqualifizierten Tätigkeiten das fachliche Weisungsrecht oft (stark) eingeschränkt, was aber nichts an der Arbeitnehmereigenschaft ändern muss.[16] Es ist eben, wie § 611a I 4BGB hervorhebt, auch die Eigenart der jeweiligen Tätigkeit zu berücksichtigen.
Beispiele:
(1)Ein Chefarzt ist zwar hinsichtlich der Art und Weise, wie er seine ärztliche Tätigkeit erbringt, weisungsfrei, hinsichtlich Zeit und Ort seiner Arbeitstätigkeit sowie der sonstigen Umstände seiner Arbeitsleistung (welcher OP-Raum? Zimmerzuteilung usw.) aber meist in die vorhandenen Strukturen des Krankenhauses eingebunden, so dass er Arbeitnehmer ist.[17] (2)Gleiches kann für einen angestellten Rechtsanwalt gelten, der zwar inhaltlich bei der Betreuung seiner Mandate weitestgehend frei ist, aber in die Arbeitsorganisation der Kanzlei (z.B. Urlaubsplan, Verteilung von Mandaten, Sekretariatsnutzung) eingebunden ist.
d) Maßgeblichkeit der tatsächlichen Vertragsdurchführung, § 611a I 6 BGB
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Maßgeblich ist nicht die Bezeichnung im Vertrag, sondern die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses, also der „gelebte“ Vertrag, § 611a I 6 BGB. Dem Arbeitsrecht kann also nicht dadurch entkommen werden, dass im Vertrag z.B. von „freier Mitarbeit“ oder „selbstständigem Dienstleister“ die Rede ist. Dahinter steht letztlich, dass das Arbeitsrecht zum Schutz der Arbeitnehmer weitestgehend (einseitig) zwingendesRecht sein muss, das nicht zu ihren Lasten abdingbar sein kann (umgekehrt kann die Anwendbarkeit des Arbeitsrechts auf ein Nicht-Arbeitsverhältnis vertraglich vereinbart werden).[18] Jedoch steht S. 6 nicht entgegen, dass die Bezeichnung als Indiz im Rahmen der Gesamtbetrachtung von S. 5 berücksichtigt wird.[19]
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Umstritten ist, ob im Rahmen der Gesamtwürdigung die (Nicht-)Erfüllung gesetzlicher Pflichten, die nur bei/gegenüber Arbeitnehmern bestehen, zu berücksichtigen ist (z.B. [Nicht-]Einbehaltung/[Nicht-]Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen und Einkommensteuervor Auszahlung des Arbeitsentgelts oder die [Nicht-]Gewährung von z.B. Erholungsurlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder Mindestlohn). Zum Teil wird es vollständig abgelehnt, die praktische Handhabung durch die Vertragsparteien bei der Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft heranzuziehen.[20] Nach der Gegenauffassung ist hingegen die Erfüllungdieser Pflichten als Indiz pro Arbeitnehmereigenschaft zu werten (es kann jedoch nicht umgekehrt aus deren Nichterfüllung ein Argument gegen die Arbeitnehmereigenschaft abgeleitet werden).[21]
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Während nach dem oben Gesagten die persönliche Abhängigkeit für die Arbeitnehmereigenschaft zentral ist, ist die wirtschaftliche Abhängigkeitinsoweit irrelevant, sie ist weder notwendige noch hinreichende Bedingung hierfür. Dementsprechend kann auch ein Multimillionär Arbeitnehmer sein. Umgekehrt ist jemand, der frei darüber entscheidet, wann, wo und wie er arbeitet, mangels persönlicher Abhängigkeit selbst dann nicht Arbeitnehmer, wenn er wirtschaftlich völlig von nur einem „Auftraggeber“ abhängig ist (allerdings handelt es sich dann i.d.R. um eine arbeitnehmerähnliche Person, s. dazu Rn. 43 ff.).
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