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Fall 8:
Das Medienunternehmen M stellt für die einzige Stelle als China-Korrespondentin die studierte Sinologin S ein. Um den Besonderheiten dieser Position gerecht zu werden, entwirft der Personalchef P von Grund auf einen neuen, von den bisherigen Verträgen komplett abweichenden Arbeitsvertrag, den er S zur Unterschrift vorlegt, ohne ihr noch die Chance zu geben, darüber zu verhandeln. Da man beidseitig von einem langjährigen Engagement ausgeht, plant P nicht, diesen Vertrag als „Blaupause“ für weitere zu verwenden. Als später Streit über eine Vertragsklausel entsteht, beruft sich S auf AGB-Recht. P hält das für unzutreffend, da gar keine AGB vorliegen. Wer hat Recht? (Lösung Rn. 211)
§ 4 Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses› E. Vertragsinhaltskontrolle im Arbeitsrecht › I. Einführung
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Auch im Arbeitsrecht herrscht in Ausfluss von Art. 12, 2 I GG im Ausgangspunkt Vertrags(-inhalts-)freiheit, so dass es zunächst den Arbeitsvertragsparteien überlassen ist, autonom die gegenseitigen Rechte und Pflichten festzulegen (vgl. § 105 S. 1 GewO). Angesichts der strukturellen, typischen Verhandlungsübermacht des Arbeitgebers kann aber ein gerechtes, modernes Arbeitsrecht nicht beim Konzept einer rein formal verstandenen Vertragsfreiheit stehen bleiben, sondern muss vielmehr danach streben, einen fairen Ausgleich der widerstreitenden Interessen zu ermöglichen. Die Vertragsinhaltsfreiheit wird deshalb mittels verschiedener Mechanismen beschränkt. Neben der Schaffung spezieller, in der Regel (halb-)zwingender[150] Arbeitnehmerschutzgesetze(z.B. TzBfG, AÜG, EFZG usw.) und der gesetzlichen Anerkennung von Systemen kollektiver Interessenwahrnehmungder Arbeitnehmer, deren „Produkt“ (Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung) grundsätzlich Vorrang vor einzelvertraglichen Absprachen zukommt (s. Rn. 99, 102), zählt hierzu auch die Inhaltskontrollearbeitsvertraglicher Regelungen. Letztere kann wiederum unterteilt werden: Zum einen die Wirksamkeitskontrolle anhand der §§ 134, 138 BGB (dazu Rn. 169 ff.), zum anderen die Angemessenheits-/Billigkeitskontrolle. Seit der Schuldrechtsmodernisierung 2002 erfolgt letztere bei Formulararbeitsverträgen anhand der §§ 307 ff. BGB (s. Rn. 207 ff.). Nur wenn es sich bei der arbeitsvertraglichen Regelung – wegen § 310 III Nr. 2 BGB (s. Rn. 210) ausnahmsweise – um eine echte Individualvereinbarung handelt, findet die Angemessenheitskontrolle über § 242 BGB statt (s. Rn. 229).
§ 4 Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses› E. Vertragsinhaltskontrolle im Arbeitsrecht › II. AGB-Kontrolle
Hinweis:
Die folgenden Ausführungen können und sollen kein Lehrbuch zum AGB-Recht ersetzen. Sie beschränken sich vielmehr auf die arbeitsrechtlichen Besonderheiten. Dabei werden in diesem Kapitel nur die wichtigen dogmatischen Grundlagen der Prüfung erörtert. Die Zulässigkeit einzelner Klauseln (z.B. Rückzahlungs- oder Widerrufvorbehalt) wird, von illustrierenden Beispielen abgesehen, im jeweiligen Kontext erörtert.
1. Arbeitsrechtliche Besonderheiten, § 310 IV 2 Hs. 1 BGB
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Bei der AGB-Kontrolle sind gemäß § 310 IV 2 Hs. 1 BGB „die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen“. Weil dies nicht nur bei der eigentlichen Inhaltskontrolle (§§ 307 ff. BGB), sondern bei den gesamten §§ 305 ff. BGB gilt, ist darauf vorab einzugehen.[151] Aufgrund der Unbestimmtheit der Vorschrift ist ihre Bedeutung umstritten. Als geklärt können aber wohl immerhin die folgenden Aspekte gelten:
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Es sind nur Besonderheiten zu berücksichtigen, die auf dem Rechtsgebiet des Arbeitsrechts insgesamt bestehen, nicht aber die Besonderheiten bestimmter Typen von Arbeitsverhältnissen (z.B. befristete Verträge).[152] |
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Es muss sich nicht um Besonderheiten handeln, die ausschließlich auf dem Gebiet des Arbeitsrechts bestehen, es genügt auch, dass sie sich v.a. dort (praktisch) auswirken (z.B. § 888 III ZPO, s. Rn. 209).[153] |
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Nach h.M. sind nicht nur rechtliche, sondern auch tatsächliche Besonderheiten des Arbeitslebens berücksichtigungsfähig.[154] |
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Folgen:Die Berücksichtigung arbeitsrechtlicher Besonderheiten kann sowohl dazu führen, dass eine Klausel, die im allgemeinen Zivilrechtsverkehr unzulässig wäre, zulässig ist, wie umgekehrt eine im allgemeinen Zivilrecht zulässige Abrede unzulässig sein kann. Die Bedeutung von § 310 IV 2 Hs. 1 BGB zeigt beispielhaft Fall 7.
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Lösung Fall 7:Nach § 309 Nr. 6 BGB sind formularmäßige Vertragsstrafenregelungeneigentlich apodiktisch unzulässig. Auf Vertragsstrafen in Arbeitsverträgen, mit denen der Arbeitgeber die vereinbarte Aufnahme der Arbeit oder die Einhaltung der vereinbarten Kündigungsfrist sichern will, ist die Norm nach h.M. aber wegen § 310 IV 2 Hs. 1 BGB unanwendbar.[155] Die arbeitsrechtliche Besonderheit besteht darin, dass der (titulierte) Primäranspruch des Arbeitgebers (d.h. derjenige auf Erbringung der geschuldeten Dienstleistung) nach § 888 III ZPO nicht vollstreckt werden kann. Da zudem Schadensersatzansprüche wegen Verletzung der Arbeitspflicht oft daran scheitern, dass sich ein kausaler Schaden nicht beweisen lässt, soll es dem Arbeitgeber wenigstens mittels Vertragsstrafen möglich sein, auf den Arbeitnehmer (finanziellen) Druck zur ordnungsgemäßen Erfüllung der Arbeitspflichten auszuüben. Dieser arbeitsrechtlichen Besonderheit kann nur durch eine Nichtanwendung von § 309 Nr. 6 BGB auf formularmäßige Vertragsstrafenabsprachen Rechnung getragen werden. Daraus folgt aber wiederum nicht, dass Vertragsstrafen im Arbeitsrecht unbeschränkt zulässig wären, sie sind vielmehr an § 307 BGB zu messen (s. dazu Rn. 611).
Hinweis:
In einer Klausursollte bei der AGB-Kontrolle wegen § 310 IV 2 Hs. 1 BGB immer in drei Schrittenvorgegangen werden:[156]
(1) |
Zunächst ist eine „normale“ AGB-Kontrolle anhand der §§ 305 ff. BGB durchzuführen. |
(2) |
Sodann ist zu prüfen, ob arbeitsrechtliche Besonderheiten bestehen, die eine abweichende Bewertung erfordern. Dabei ist zu fragen, ob im Arbeitsrecht eine besondere Interessenlage besteht, die eine Modifikation der §§ 305 ff. BGB gebietet.[157] |
(3) |
Ist dies zu bejahen, so ist zu würdigen, wie (Unanwendbarkeit oder Modifikation einer Vorschrift aus den §§ 307 ff. BGB?) diese Besonderheiten „angemessen zu berücksichtigen“ sind. |
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Auch im Arbeitsrecht gilt die Legaldefinition von AGB in § 305 I BGBmit ihren dort aufgestellten Voraussetzungen; es sei daher insoweit auf entsprechende Schuldrechtslehrbücher verwiesen.[158] Hinzuweisen ist darauf, dass – anders als bei Vertragsschlüssen über alltägliche Geschäfte (z.B. im Internet) – der Arbeitnehmer zwar den Vertrag und seine Bedingungen oft vor Unterschrift genau(er) durchforsten dürfte, ein individuelles, der Annahme von AGB entgegenstehendes Aushandeln nach § 305 I 3 BGB aber dennoch meist nicht vorliegt, weil es an der dafür erforderlichen Bereitschaft des Arbeitgebers, die vorgelegten Bedingungen ernsthaft zur Disposition zu stellen,[159] fehlen wird.[160] Zu beachten ist weiter, dass der Arbeitnehmer nach zutreffender h.M. beim Abschluss arbeitsrechtlicher Verträge Verbraucher(§ 13 BGB, s. Rn. 40) und der Arbeitgeber – jedenfalls in der Regel – Unternehmer(§ 14 BGB, s. Rn. 64) ist, so dass ein Verbrauchervertragi.S.v. § 310 III BGBvorliegt. Das hat im Kontext von § 305 I BGB zwei Konsequenzen:
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