4. Anfechtbarkeit des Arbeitsvertrages
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Die Anfechtung des Arbeitsvertrages richtet sich grundsätzlich nach den allgemeinen Regeln der §§ 119 ff., 142 ff. BGB. Insb. werden diese Vorschriften nicht durch die Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis ordentlich oder außerordentlich zu kündigen, verdrängt oder modifiziert, denn Kündigung und Anfechtung haben unterschiedliche Bezugspunkte, Voraussetzungen und Rechtsfolgen.[114] Dennoch ist im Folgenden auf einige Aspekte/ Besonderheiteneinzugehen. Dabei wird lebensnah davon ausgegangen, dass Anfechtender der Arbeitgeberist, denn eine Anfechtung durch den Arbeitnehmer spielt nur selten eine Rolle.
Hinweis:
Dass trotz der Kündbarkeit des Arbeitsverhältnisses der Arbeitsvertrag anfechtbar ist, kann – entsprechend Zeit vorausgesetzt – in der Klausur kurz festgestellt werden. Unbedingt zu beachten ist, dass Kündigungsbeschränkungen(z.B. §§ 623 BGB, 102 BetrVG, allgemeiner und besonderer Kündigungsschutz) auf Anfechtungen nicht anwendbar sind![115]
b) Besonderheiten
aa) Anfechtungsgrund
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(1)Nicht ohne Relevanz ist eine Anfechtung nach § 119 II BGB. Voraussetzung ist, dass der Arbeitgeber einem Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaftenunterliegt. Verkehrswesentliche Eigenschaften einer Person bestehen neben ihren körperlichen Merkmalen auch in ihren tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen und Beziehungen zur Umwelt, soweit sie nach der Verkehrsanschauung für die Wertschätzung und die zu leistende Arbeit von Bedeutung sind.[116]
Eine bloße Fehlvorstellung über die Leistungsfähigkeitdes Arbeitnehmers genügt hierfür nicht, anders aber Irrtümer über die formelle fachliche Vorbildung oder sonstige (z.B. gesundheitliche) Mängeldes Arbeitnehmers, die die ordnungsgemäße Erbringung der Arbeitsleistung unmöglich machen oder erheblich beeinträchtigen.[117] Eine Vorstrafekann Rückschluss auf die für das Arbeitsverhältnis erforderliche Vertrauenswürdigkeit erlauben; Voraussetzung ist aber, dass sie für den Arbeitsplatz „einschlägig“ ist und bei Vertragsschluss nicht bereits die Tilgungsfrist aus dem BZRG abgelaufen war (s. näher Rn. 126).
Die Schwerbehinderungdes Arbeitnehmers darf grundsätzlich nicht als verkehrswesentliche Eigenschaft gewertet werden, würde man ihn dann doch § 164 II SGB IX zuwider benachteiligen; etwas anderes gilt, wenn die Abwesenheit der Behinderung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung i.S.v. § 8 AGG darstellt, eine Benachteiligung also gerechtfertigt wäre.[118]
Auch die Schwangerschaftist nach einhelliger Meinung keine verkehrswesentliche Eigenschaft, was verbreitet mit der vorübergehenden Natur dieses Zustands begründet wird.[119] Das gilt nach wenig überzeugender h.M. selbst dann, wenn die Schwangere nur befristet eingestellt werden soll (s. Rn. 136).
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(2)Von besonderer Relevanz ist die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§ 123 I Alt. 1 BGB). Unbedingt zu beachten ist, dass neben Täuschung (= Hervorrufen oder Aufrechterhaltung eines Irrtums)[120] und Arglist (= [bedingter] Vorsatz hinsichtlich der Täuschung)[121] die Widerrechtlichkeitder Täuschung geprüft werden muss.[122] Hier werden die Grundsätze zum Fragerecht des Arbeitgebersrelevant (näher Rn. 118 ff.), ist die Täuschung durch den Bewerber doch nicht widerrechtlich, wenn der Arbeitgeber nach dem betreffenden Umstand nicht fragen durfte und auch keine Offenbarungspflicht des Bewerbers bestand.
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In Fall 5hätte der pädophile P seine sexuelle Neigung ungefragt offenlegen müssen. Indem er dies nicht tat, beging er eine arglistige Täuschung durch Unterlassen, die A grundsätzlich zur Anfechtung berechtigt. (Fortsetzung Rn. 181 )
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(3)Eine Anfechtung wegen widerrechtlicher Drohung( § 123 I Alt. 2 BGB) erscheint bei Abschluss des Arbeitsvertrags kaum praktisch denkbar. Wichtig ist sie hingegen bei Änderungsverträgen und v.a. Aufhebungsverträgen (s. Rn. 1124 ff).
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Zu beachten ist, dass jeder Anfechtungsgrund Kausalität voraussetzt. Irrte der Arbeitgeber z.B. über eine Vorstrafe des Bewerbers, so kann er nicht anfechten, wenn er ihn auch bei deren Kenntnis eingestellt hätte.[123] Gleiches gilt, wenn der Bewerber den Arbeitgeber zwar arglistig und widerrechtlich täuschte, dies für den Vertragsschluss aber nicht einmal mitursächlich war.[124]
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Bei einer Anfechtung nach § 123 BGB gilt ohne Modifikationen die Anfechtungsfrist des § 124 BGB. Für die bei einer Anfechtung nach § 119 BGB geltende Anfechtungsfrist von § 121 I 1 BGBzieht das BAG für die Auslegung des Begriffs „unverzüglich“aber die Wertung des § 626 II BGB als Höchstgrenzeheran. Die Anfechtung kann also nur unverzüglich sein, wenn sie spätestens innerhalb von zwei Wochen, nach denen der Anfechtungsberechtigte von dem zur Anfechtung berechtigenden Umstand Kenntnis erlangt, dem Anfechtungsgegner zugeht;[125] nach den Umständen des Einzelfalls kann die Frist aber auch schon früher enden.[126]
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In Fall 5sind die Anfechtungsfristen aus § 124 I, III BGB noch nicht abgelaufen, insb. ist die 10-jährige Höchstfrist gewahrt. (Fortsetzung Rn. 184 )
dd) Ausschluss der Anfechtung nach § 144 BGB
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Die Anfechtung scheidet aus, wenn der Arbeitgeber das anfechtbare Arbeitsverhältnis bestätigt, § 144 I BGB. Dies setzt voraus, dass er Kenntnis von (allen) Anfechtungsgründen hat oder zumindest mit ihnen rechnet und durch ausdrückliche oder konkludente Erklärung zunächst zu verstehen gibt, dennoch am Arbeitsverhältnis festhalten zu wollen.[127] Ändert er später seine Meinung (z.B. weil ein Kunde ebenfalls „Wind“ vom Anfechtungsgrund erhält und empört reagiert), so ist der Weg über die §§ 119 ff. BGB versperrt, es bleibt ggf. nur eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
ee) Ausschluss der Anfechtung nach § 242 BGB
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Ausnahmsweise kann trotz Vorliegens ihrer Voraussetzungen eine Anfechtung nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) ausscheiden. Das ist der Fall, wenn der Anfechtungsgrund wegen nach Vertragsschluss eintretender Änderungen im Zeitpunkt der Anfechtung seine Bedeutung für das Arbeitsverhältnis verloren hat, sprich: die Rechtslage des Getäuschten nicht mehr beeinträchtigt.[128] Das BAG nahm das z.B. an, wenn der Bewerber verschweigt, zu einer eigentlich demnächst anzutretenden Haftstrafe verurteilt worden zu sein, die er dann aber wegen eines „Freigängerstatus“ nicht verbüßen musste, so dass er seinen Arbeitspflichten (überraschend) doch nachgehen konnte.[129] Um dem Anfechtungsberechtigten nicht sein an sich bestehendes Anfechtungsrecht zu nehmen, ist ein Ausschluss nach § 242 BGB nur unter strengen Voraussetzungen zu bejahen.
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Auch wenn sich P im Kindergarten nie etwas zuschulden kommen ließ, ist ein Ausschluss der Anfechtung nach § 242 BGB in Fall 5abzulehnen. Das Risiko, dass er doch eines Tages ein Kind im Kindergarten missbraucht, ist zu groß und weder den Kindern, deren Eltern, noch A zumutbar.
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Klausurrelevante (!) Besonderheiten bestehen bei den Rechtsfolgen einer Anfechtung des Arbeitsvertrages. Entgegen § 142 I BGB kommt dieser i.d.R. nicht ex-tunc-Wirkung zu, sondern sie wirkt nur ex nunc(s. Rn. 186 ff.).
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