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IV. Wirkung der Grundfreiheiten auf das Privatrecht
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Aus dem Anwendungsvorrang des EU-Rechts folgt zunächst, dass die Grundfreiheiten unmittelbar auch für das Privatrecht gelten.[93] Privatrechtliche Normensind also grundsätzlich am Maßstab der Grundfreiheiten zu messen. Demgegenüber können die Grundfreiheiten nur in sehr eingeschränktem Rahmen unmittelbar die Privaten binden.[94] Private Verträge unterliegen also nicht ohne weiteres einer Grundfreiheitenkontrolle. Die Grundfreiheiten entfalten nur in bestimmten Fällen Drittwirkung(zu Sonderfällen Rn. 79 ff.).[95]
Die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten auf das Privatrecht hat in Deutschland zunächst große Sorge ausgelöst.[96] Heute hat sich die Sorge weitgehend zerstreut. Den besonders bedrohlich scheinenden Verstoß zentraler privatrechtlicher Normen gegen die Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH bisher nie angenommen. Schwierigkeiten macht aber weiterhin die Begründung dieser faktischen Zurückhaltung. Außerdem hat es wichtige Entscheidungen zur Freizügigkeit gegeben. Im Folgenden sollen zunächst die wichtigsten Eckpunkte der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten dargestellt werden, bevor einige die Behandlung des Privatrechts betreffende Erklärungsversuche diskutiert werden.
2. Freizügigkeit und nicht diskriminierendes nationales Recht in der Rechtsprechung des EuGH
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Die Freizügigkeit, mit der Niederlassungsfreiheit und der Arbeitnehmerfreizügigkeit, hat erhebliche Auswirkungen für die Anknüpfungsregeln des internationalen Privatrechts gehabt.
In dem einleitenden Beispiel 3( Rn. 45) mussten die Eltern bisher wirklich einen ihrer Namen für das Kind auswählen. Denn das deutsche internationale Namensrecht knüpft nach Art. 10 Abs. 1 EGBGB an die Staatsangehörigkeit an. Das führt dazu, dass deutsche Kinder in Deutschland stets dem § 1617 BGB unterliegen und keinen Doppelnamen tragen dürfen.[97] In einem dem Beispiel ganz entsprechenden Fall befand der EuGH, dass diese Regelung eine Beschränkung der Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV darstelle.[98] Denn für das Kind erschwere es die Freizügigkeit erheblich, wenn in seinem deutschen Reisepass ein anderer Name eingetragen sei als im dänischen Personenregister.[99] Der deutsche Gesetzgeber hat auf diese Rechtsprechung reagiert. Art. 48 EGBGBbestimmt nun, dass Deutsche, für die bei einem gewöhnlichen Aufenthalt in einem EU-Mitgliedstaat ein Name in das Personenstandsregister eingetragen worden ist, diesen Namen auch in Deutschland wählen dürfen.
Im internationalen Gesellschaftsrecht musste die zuvor herrschende Sitztheorie, die die Verlegung des Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat erschwerte, aufgegeben werden (dazu unten Rn. 602).
3. Warenverkehrsfreiheit und nicht diskriminierendes nationales Recht in der Rechtsprechung des EuGH
a) Die Entwicklung der Rechtsprechung bis zur Keck-Entscheidung
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Den Grundstein dafür, dass die Warenverkehrsfreiheit heute überhaupt als Beschränkungsverbot verstanden wird, legte der EuGH mit der Entscheidung Dassonville. Hier wurde die Warenverkehrsfreiheit dahingehend ausgelegt, dass alle Handelsregelungen, also auch alles den Handel betreffende nationale Recht, welches „geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern,“ verboten seien.[100] Der Gerichtshof stellte wenig später in der bekannten Cassis-Entscheidungausdrücklich klar, dass dieses Beschränkungsverbot auch für nationale Rechtsvorschriften gilt, die sich auf inländische und ausländische Waren gleichermaßen beziehen. Gemeint war also das nicht diskriminierende nationale Recht.[101]
Diese Formeln des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit waren sehr weit.[102] In der Tat lag nun der Gedanke nahe, beinahe jede privatrechtliche Norm sei geeignet, den innerstaatlichen Handel „mittelbar potentiell zu behindern“. So kam es Anfang der neunziger Jahre zu einem Anstieg der Vorlagen beim EuGH, da viele Unternehmer sich günstige Auswirkungen für ihren speziellen Fall erhofften. Zum Teil waren auch privatrechtliche Regelungen betroffen.
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Nach einigen wenig aussagekräftigen Einzelfallentscheidungen hat der EuGH schließlich in der Entscheidung Keckeine neue Formel geprägt. Danach soll eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit aus Art. 34 AEUV durch „Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten“, nicht vorliegen, „sofern diese Bestimmungen für alle Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren.“[103] Der EuGH hat also für von ihm als „Verkaufsmodalitäten“ bezeichnete nationale Bestimmungen den Schutz der Warenverkehrsfreiheit wieder auf einen Diskriminierungsschutz begrenzt.[104] Das war in gewisser Weise sehr hilfreich, weil es „Sicherheit“ für das nationale Privatrecht brachte, ließ aber viele Fragen offen.
b) Heutiger Stand der EuGH-Rechtsprechung
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Der EuGH hat die Keck-Formel seitdem nicht wesentlich verändert. Explizit wendet er sie auch nur noch selten an. Die Begriffe „Verkaufsmodalität“ – im Wesentlichen handelt es sich um Regeln für den Verkauf, etwa ein Verbot von Werbung – und das Gegenstück, die „Produktmodalität“ – hier handelt es sich um auf die Ware bezogene Regeln, etwa zur Form der Verpackung –, hat er nie grundlegend geklärt.[105] Mit der Entscheidung Kommission/Italien hat der EuGH vielmehr einen etwas anderen Weg beschritten. Er hat dort eine Argumentation begründet, die er nun häufig verwendet. Dabei werden – in recht allgemeiner Weise – verschiedene Anforderungen genannt, die letztlich alle darauf gerichtet sind, eine Marktzugangsbeschränkung zu beschreiben.[106] Die Prüfung erfolgt in Stufen, so dass die Literatur vom Drei-Stufen-Testspricht.[107] Für das Privatrecht gibt dieser Test wenig her.
Der EuGH hat aber für nicht diskriminierendes nationales Privatrecht bisher niemals einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheitangenommen. Es ist also ein vorsichtiger Umgang des EuGH mit dem nationalen Privatrecht, und zwar auch mit dem zwingenden nationalen Privatrecht, zu beobachten, ohne dass eine erkennbare allgemeine Linie vorhanden wäre. Eindeutig ist nur, dass ungewisse und mittelbare Beeinträchtigungen dem EuGH bei privatrechtlichen Normen für eine Verletzung der Grundfreiheiten nicht ausreichen.[108] Es wird wohl eine spürbare Bedeutung der Beeinträchtigung verlangt, wörtlich heißt es meist, sie dürfe nicht „zu ungewiß und mittelbar“ sein.[109] Wäre nicht der Begriff des „Spürbarkeitskriteriums“ bereits als Fachausdruck im Bereich des Wettbewerbsrechts belegt,[110] so könnte durchaus von einem solchen gesprochen werden.[111]
Insgesamt weist die Rechtsprechung keine klare Linieauf, meidet es aber deutlich, Privatrechtsnormen der Mitgliedstaaten als grundfreiheitenwidrig zu verstehen. Daher ist sogar gesagt worden, dass die jeweiligen Begründungen des EuGH geradezu wie Ausflüchte erscheinen müssen.[112]
4. Meinungsstand in der Wissenschaft
a) Ausgangspunkt: Untragbarkeit einer umfassenden Grundfreiheitenkontrolle für das Privatrecht
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