Man muss nun aber doch verschiedene Sonderfälle hervorheben. Dazu gehören zum einen die Fälle, in denen die EU ihre Kompetenzen überschritten hat (dazu Rn. 33) und in denen die Verletzung so schwer ist, dass die deutsche Verfassungsidentität verletzt ist (dazu Rn. 38). Zum anderen gehören auch die Fälle hierher, in welchen eine Rechtsfrage nur teilweise vom EU-Recht erfasst ist. Das hat das BVerfG in der Entscheidung „Recht auf Vergessenwerden I“ noch einmal klar herausgearbeitet.[66]
3. Europäische Grundrechte und Privatrecht
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Bei der Auslegung und Anwendung des Rechts der EU sind stets auch die europäischen Grundrechte zu beachten. Der EuGH wendet diese in ständiger Rechtsprechung an.
Sollte eine Richtlinie Normen enthalten, die gegen die Charta, die EMRK oder gemeinsame verfassungsrechtliche Grundsätze der Mitgliedstaaten verstoßen, so würde der EuGH dies also durch Auslegung korrigieren oder die Richtlinie für unwirksam erklären. So erklärte der EuGH die Vorratsdatenspeicherungs-RL (RL 2006/24/EG) für unwirksam, weil sie gegen Art. 7 und 8 GRCh verstieß.[67] Für die Verbraucherrechte-RL ist ein solcher Verstoß immerhin in der Literatur schon angesprochen worden.[68]
Man wird sich nun fragen, inwieweit die Mitgliedstaaten an die europäischen Grundrechte gebunden sind. Soweit sie sich mit ihren eigenen, nationalen Grundrechten decken oder in der EMRK enthalten sind, ist das kein spezifisch europarechtliches Problem. Interessanter ist im hiesigen Kontext die Frage, inwieweit die Mitgliedstaaten an die EU-Charta gebundensind. Nach Art. 51 Abs. 1 GRCh sind die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts an die Charta gebunden. Dies umfasst einerseits die Durchführung unmittelbar geltenden EU-Rechts (z.B. Verordnungen) und die Umsetzung von Richtlinien. Hierzu zählt aber auch die Auslegung und Anwendung von Normen, die auf Unionsrecht beruhen.[69] Die genauen Grenzen haben bereits für erheblichen Zündstoff gesorgt. In der Entscheidung Åkerberg Fransson formulierte der EuGH nämlich so, dass man annehmen könnte, ihm genüge für die Geltung der EU-Grundrechte ein bloßer unionsrechtlicher Bezug der Rechtsfrage.[70] Das widerspräche Art. 51 Abs. 1 GRCh, und das BVerfG hat deutlich gemacht, dass es in einer solchen Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GRCh einen Ultra-Vires-Akt sehen würde.[71]
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Eine wirklich spannende und bisher fast ganz ungeklärte Frage betrifft die Wirkung der EU-Grundrechte zwischen Privaten. Im deutschen Recht gibt es zur Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten eine differenzierte Debatte. Nach der herrschenden, auch vom BVerfG vertretenen Ansicht strahlen die Grundrechte als objektive Wertordnung – in sehr unterschiedlichem Maße – in das Privatrecht aus.[72] Weitgehend anerkannt ist zum einen die Einwirkung der Grundrechte über die zivilrechtlichen Generalklauseln. So ist insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG, der die Privatautonomie sichert, bei der Ausfüllung und Anwendung der Generalklauseln (vor allem § 138 BGB) zu beachten. Zum anderen gibt es in den Mitgliedstaaten gelegentlich auch eine unmittelbare Anwendung von Grundrechten durch die Schaffung oder Gestaltung bestimmter Ansprüche, die im geschriebenen Privatrecht eigentlich nicht enthalten sind. So ist es in Deutschland mit der Entschädigung bei Ehrverletzungen, die der BGH aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG entnimmt.[73] In Italien wurde aus dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie ein Ersatzanspruch beim Tod von Angehörigen hergeleitet.[74]
Für die Charta ist eine solche unmittelbare Wirkung angesichts des klaren Wortlauts von Art. 51 Abs. 1 GRCh, der als Adressaten die EU und die Mitgliedstaaten benennt, schwer zu begründen.
In der Entscheidung Kücükdeveci ist der EuGH dennoch zu einer Wirkung des in Art. 21 GRCh enthaltenen Diskriminierungsverbots zwischen Privaten gelangt. Allerdings betonte er zum einen deutlich, dass der allgemeine Grundsatz des Diskriminierungsverbots durch eine Richtlinie konkretisiert worden war. Zum anderen hat der EuGH nicht im eigentlichen Sinne ein Grundrecht zwischen zwei Privaten angewendet. Vielmehr war im Fall Kücükdeveci nur eine der Charta entgegenstehende Norm unangewendet zu lassen.[75]
4. Keine nationale Grundrechtskontrolle umgesetzten Rechts
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Der Vorrang des EU-Rechts gilt für alle Hoheitsakte der Union. Soweit es sich um privatrechtliche Richtlinien handelt, betreffen diese den Bürger jedoch gar nicht unmittelbar. Erst durch die umgesetzten nationalen Normen kann er daher in seinen Rechten beeinträchtigt sein. Interessant ist daher zuletzt noch die Frage, ob das nationale Recht, welches zur Umsetzung der Richtlinie geschaffen wurde, der Grundrechtskontrolle unterliegt.
Soweit die Umsetzung sich genau an der Richtlinie orientiert und keine eigenen Inhalte enthält, muss dies abgelehnt werden. Eine Kontrolle von umgesetztem Recht wäre in diesem Bereich nämlich inhaltlich doch immer eine Kontrolle der zugrundeliegenden Richtlinie. Anders ist es aber, wenn das umsetzende Gesetz über die Richtlinie hinausgeht. Dann unterliegt der überschießende Teil der ganz normalen Kontrolle anhand des Grundgesetzes.[76]
Denkbar bleibt damit nur noch eine Kontrolle umgesetzten Rechts in dessen Verhältnis zum unveränderten nationalen Recht anhand des Art. 3 GG. Diese Kontrolle kann aber Konsequenzen nur für das tradierte nationale Rechtund niemals für das der Richtlinie entsprechende neue Gesetz haben. Das heißt, dass unter Umständen das bisher unveränderte nationale Recht ebenfalls an die von der Richtlinie vorgegebenen Inhalte angepasst werden muss. Dies kann beispielsweise dann nötig werden, wenn die Umsetzung der Richtlinie dazu führt, dass grenzüberschreitende Transaktionen bevorzugt, reine Inlandsgeschäfte somit benachteiligt werden.[77]
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Der Vorrang des Rechts der EU bewirkt also, dass nationale Normen, die gegen das Recht der EU verstoßen, unanwendbar sind. Schwierigkeiten treten auf, wenn es fraglich ist, wieweit die Kompetenzen der EU reichen bzw. welche ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze das Recht der EU umfasst. Das soll Gegenstand des nächsten Abschnitts sein.
§ 3 Europarechtliche Grundlagen für die Privatrechtssetzung› C. Grundfreiheiten, Diskriminierungsverbot, Unionsbürgerschaft und Privatrecht
C. Grundfreiheiten, Diskriminierungsverbot, Unionsbürgerschaft und Privatrecht
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Literaturhinweis:
Bachmann , Nationales Privatrecht im Spannungsfeld der Grundfreiheiten, AcP 210 (2010), 424; Ludwigs/Weidermann , Drittwirkung der Europäischen Grundfreiheiten – Von der Divergenz zur Konvergenz?, Jura 2014, 152.
Beispiel 3
– nach EuGH Slg. 2008, 7639 (Grunkin-Paul):
Herr Müller und Frau Meier sind ein deutsches Ehepaar. Bei der Geburt ihres ersten Kindes leben sie in Dänemark. Das Kind wird mit dem Nachnamen Meier-Müller ins dänische Geburtsregister eingetragen. Nun zieht die Familie zurück nach Flensburg und bekommt die Mitteilung, dass das Kind nur einen der beiden Nachnamen tragen dürfe (§ 1617 BGB, Art. 10 Abs. 1 EGBGB). Können Herr Müller und Frau Meier sich wehren?
§ 3 Europarechtliche Grundlagen für die Privatrechtssetzung› C. Grundfreiheiten, Diskriminierungsverbot, Unionsbürgerschaft und Privatrecht › I. Inhalt und Wirkungsweise der Grundfreiheiten
I. Inhalt und Wirkungsweise der Grundfreiheiten
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Ein spezieller Bereich, in dem der Vorrang des (primären) EU-Rechts sich auch auf das Privatrecht auswirken kann, ist die Wahrung und Sicherung der Grundfreiheiten.
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