1 ...8 9 10 12 13 14 ...43 26
Der sehr offene, von beiden Seiten mit starken Argumenten geführte Streit darüber, ob Art. 114 AEUV ein Vertragsgesetzbuch tragen kann oder nicht, macht eine allgemeine Problematik des Art. 114 AEUV deutlich: Die Norm ist trotz der eben dargestellten Rechtsprechung des EuGH immer noch sehr weit und unterliegt daher starken rechts- und wirtschaftspolitischen Einflüssen. Ein konkreter empirischer Nachweis dafür, dass ein Vertragsgesetzbuch den Binnenmarkt erkennbar verbessern würde, ist im Rahmen des Art. 114 AEUV nicht erforderlich (näher soeben Rn. 15). Bedenkt man, wie schwierig ein solcher Nachweis zu erbringen wäre (und das gilt nicht nur für das Vertragsgesetzbuch, sondern auch für manchen anderen Rechtsakt), so ist diese Offenheit der Norm aber kein Nachteil, sondern eine Notwendigkeit. Sie führt allerdings zu dem Ergebnis, dass Art. 114 AEUV die Kompetenz für jedweden Rechtsakt enthält, der in plausibler Weise auf eine Verbesserung des Marktes abzielt. Wenn also die Mehrheit der Mitgliedstaaten der EU – und damit des Rates – und das EU-Parlament von dieser marktverbessernden Wirkung des Vertragsgesetzbuchs überzeugt sind und das Vertragsgesetzbuch mit tragfähigen Argumenten gerade auf das Ziel der Verbesserung des Marktes ausrichten, so kann sich die EU dafür auch auf Art. 114 AEUV stützen.
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Das Subsidiaritätsprinzip und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz können dann, wenn einmal entschieden ist, dass gerade ein europäisches Vertragsgesetzbuch als Instrument zur Verbesserung des Marktes verwendet werden soll, dabei keine Schranke mehr bilden. Denn dieses Vertragsgesetzbuch kann weder von den Mitgliedstaaten einzeln erreicht werden, noch gibt es ein milderes Mittel dafür.[36] Ohne dass damit in der rechtspolitischen Auseinandersetzung über die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit eines einheitlichen europäischen Vertragsgesetzbuchs Position bezogen wird, wird man einräumen müssen, dass Art. 114 AEUV letztendlich als passende Rechtsgrundlage angesehen werden kann.[37]
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Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass zwar nicht jede rechtsangleichende Maßnahme unter Art. 114 AEUV fällt. Trotz des notwendigen Binnenmarktbezugs bleibt für Art. 114 AEUV aber ein sehr weiter Anwendungsbereich. Denn zum einen ist der Binnenmarktbegriff weit, zum anderen kann Art. 114 AEUV immer schon dann als Kompetenzgrundlage dienen, wenn die Maßnahme auch nur unter anderem das Ziel der Binnenmarktverbesserung hat.
§ 3 Europarechtliche Grundlagen für die Privatrechtssetzung› A. Kompetenz der EU zur Rechtssetzung im Bereich des Privatrechts › II. Auswirkungen fehlender Kompetenz
II. Auswirkungen fehlender Kompetenz
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Nach Art. 263 Abs. 2 AEUV können Mitgliedstaaten, die geltend machen wollen, dass eine Richtlinie in Kompetenzüberschreitung gesetzt worden ist, Nichtigkeitsklage beim EuGH erheben. Sie müssen dies jedoch gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV binnen zwei Monaten ab Bekanntgabe der Richtlinie tun.[38] Deutschland hat vor einigen Jahren mit Erfolg eine solche Nichtigkeitsklage gegen die erste Tabakwerbeverbots-RL erhoben.[39] Natürliche und juristische Personen können die Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV zwar gegen Verordnungen erheben, von denen sie unmittelbar und individuell betroffen sind, dagegen in der Regel (nämlich soweit nicht unmittelbare Wirkung vorliegt) nicht gegen Richtlinien.[40]
2. Rüge der Kompetenz im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens (Imperial Tobacco)
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Der EuGH hat außerdem bejaht, dass auch Private schon vor der Umsetzung einer Richtlinie überprüfen lassen dürfen, ob diese innerhalb der Kompetenzen der EU ergangen ist. In dem zu entscheidenden Fall hatten mehrere Tabakkonzerne im Vereinigten Königreich gegen die Umsetzung der Richtlinie 2001/37/EG über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen[41] geklagt. Sie meinten, die Richtlinie dürfe nicht umgesetzt werden, weil sie außerhalb der Kompetenzen der EU ergangen sei. Das angerufene britische Gericht legte dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens [42] die Frage vor, ob die Richtlinie innerhalb der Kompetenz der EU ergangen sei. Der EuGH hielt diese Vorgehensweise für zulässig.[43]
§ 3 Europarechtliche Grundlagen für die Privatrechtssetzung› B. Vorrang des EU-Rechts
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Beispiel 2
– nach EuGH, Slg. 2010, 365 (Kücükdeveci); beachte auch EuGH, Slg. 2005, 9981 (Mangold), dazu näher unten Rn. 265:
Die Arbeitnehmerin A war seit ihrem vollendeten 18. Lebensjahr bei der Firma F angestellt. Im Alter von 28 Jahren wurde sie unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monat entlassen. Denn F hatte die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs liegenden Beschäftigungszeiten bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt (§ 622 Abs. 2 S. 2 BGB a.F.). A macht geltend, dass diese Regelung eine EU-rechtlich verbotene Diskriminierung wegen des Alters darstelle.
§ 3 Europarechtliche Grundlagen für die Privatrechtssetzung› B. Vorrang des EU-Rechts › I. Grundsatz
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EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht.[44] Für das Privatrecht bedeutet das, dass jede unionsrechtliche Norm, welche einen bestimmten privatrechtlichen Sachverhalt betrifft, den Regelungen des nationalen Rechts – einschließlich des Grundgesetzes – vorgeht.[45] Der Vorrang des EU-Rechts geht aber noch weiter. Auch die Auslegungs- und Rechtsfortbildungsakte des EuGHgehen dem nationalen Privatrecht insgesamt vor. Das BVerfG meint dazu im Grundsatz, dem EuGH müsse auch die Rechtsfortbildung zugestanden werden, da es nicht angehen könne, dass der EuGH Kompetenzen abgesprochen bekäme, die den nationalen Gerichten in Europa traditionell zugebilligt würden.[46]
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Der Vorrang des Rechts der EU, und insbesondere der Rechtsprechung des EuGH, endet jedoch dort, wo inhaltlich deren Kompetenzen enden. Auch hierbei ist aber Fingerspitzengefühl gefragt. In dem wichtigen Urteil Honeywellzur Mangold Entscheidung des EuGH hat das BVerfG sehr deutlich gemacht, dass der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeitdazu führt, dass ein kompetenzüberschreitender, sogenannter „ausbrechender“ Rechtsakt nur mit äußerster Zurückhaltung angenommen werden dürfe. Es meint wörtlich: „Wenn jeder Mitgliedstaat ohne Weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet.“[47] Der EuGH ist danach generell selbst zuständig dafür, über die Frage der Kompetenz zu entscheiden, und seine Entscheidungen sind erst dann unbeachtlich, wenn sie das Europarecht offensichtlich und erheblich verletzen.[48]
§ 3 Europarechtliche Grundlagen für die Privatrechtssetzung› B. Vorrang des EU-Rechts › II. Wirkungsweise des Vorrangs
II. Wirkungsweise des Vorrangs
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Allerdings handelt es sich um einen Anwendungsvorrang, nicht um einen Geltungsvorrang.[49] Daraus folgt, dass nationales Recht durch das Inkrafttreten einer entgegenstehenden unionsrechtlichen Norm oder eines sonstigen Rechtsakts nicht insgesamt unwirksam, sondern nur unanwendbarwird. Unanwendbar wird die Norm dabei jeweils nur, soweit in dem konkreten Anwendungsfall überhaupt die Vorgabe des EU-Rechts verletzt wird. Wann das der Fall ist, ist nicht immer leicht festzustellen. So ist für die im primären EU-Recht enthaltenen Grundfreiheiten sehr umstritten, wann nationale Normen – insbesondere des Privatrechts – gegen diese verstoßen (dazu näher unten Rn. 52 ff.).
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