B‘s Eltern erwachsen Unkosten von 200 €, weil das Reisebüro vertragsgemäß bei kurzfristiger Absage der Reise einen gewissen Prozentsatz der Reisekosten als Ausfallentschädigung verlangt (vgl § 651i II 2, 3).
B‘s Eltern verlangen von A Zahlung von 200 €.
Es wird eine Rechtsfolge behauptet (Anspruch der Eltern gegen A). Also werden wir einen Rechtssatz suchen, aus dem sich die Rechtsfolge ergibt. Einschlägig ist § 1298 I 1. Danach hat ein Verlobter, der vom Verlöbnis zurücktritt, gewissen Personen (ua den Eltern des anderen Verlobten) den Schaden zu ersetzen, der ihnen dadurch entstanden ist, dass sie in Erwartung der Ehe Aufwendungen gemacht haben oder Verbindlichkeiten eingegangen sind. Nach § 1298 III besteht die Ersatzpflicht nicht, wenn ein wichtiger Grund für den Rücktritt vorliegt. Der Sachverhalt ist unter den Normtatbestand zu subsumieren. Es ist also zu prüfen, ob die einzelnen Tatbestandselemente im Sachverhalt wiederzufinden sind.
Tatbestand |
Sachverhalt |
1. Es hat ein Verlöbnis bestanden. |
A und B haben sich die Ehe versprochen. |
2. Ein Verlobter ist vom Verlöbnis zurückgetreten. |
A erklärt B, dass er sie nicht heiraten werde. |
3. Gewisse Personen (hier: Eltern des anderen Verlobten) haben Aufwendungen gemacht oder sind Verbindlichkeiten eingegangen. |
Die Eltern der B haben eine Schiffsreise gebucht und sich zur Zahlung verpflichtet. |
4. Dies geschah in Erwartung der Ehe. |
Die Schiffsreise sollte als Hochzeitsgeschenk dienen. |
5. Aus dem Rücktritt ist ein Schaden entstanden. |
Die Eltern haben nutzlos 200 € bezahlt. |
6. Es liegt kein wichtiger Grund für den Rücktritt vor. |
? |
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Beim zuletzt genannten Tatbestandselement stockt die bis dahin flüssige Subsumtion. Denn die Frage, ob für A ein wichtiger Grund zum Rücktritt vom Verlöbnis vorlag, ist nicht einfach zu beurteilen. Es lassen sich Argumente dafür und dagegen vorbringen. Letztlich geht es um Grundanschauungen über Moral und über die Stellung der Frau in Ehe und Gesellschaft. Man kann den wichtigen Grund bejahen oder auch verneinen.
Einerseits könnte man sagen: Das Leben der B vor der Verlobung geht A nichts an, zu jener Zeit war sie „frei“. Auch musste B ihm bei der Verlobung darüber nichts sagen. A muss es genügen, wenn sich B seit der Verlobung der eingegangenen Bindung gemäß verhält.
Andererseits könnte man meinen: Der Umgang seiner Braut mit Männern vor der Verlobungszeit gibt A einen wichtigen Rücktrittsgrund, wenn darin eine erotische Labilität sichtbar wird, die auch für die geplante Ehe nichts Gutes verheißt. B hätte A über ihr Vorleben aufklären müssen. Ihr Schweigen über ihr Vorleben gibt A hinreichenden Anlass, von der geplanten Eheschließung Abstand zu nehmen.
Die Gründe pro und contra lassen sich weiter ausfalten.
Wir sehen daraus: Der Normtatbestand des § 1298 enthält die Konfliktlösung für unseren Fall nur unvollständig. Die Prämisse wird in einem ganz entscheidenden Punkt unscharf. Denn was ein wichtiger Grund ist und was nicht, kann den Worten „wichtiger Grund“ selbst nicht entnommen werden, sondern ergibt sich aus Anschauungen außerhalb des Gesetzestextes .
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Was man Gesetzesanwendungnennt, besteht also nicht nur aus der Subsumtion der Sachverhalte unter das Gesetz, sondern auch in der Mitwirkung des Gesetzesanwenders an der Rechtssatzbildung selbst. Das streitentscheidende Gericht richtet die Prämisse zu (Josef Esser) , es konturiert die Rechtsnorm, um ihr dann den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt zu unterwerfen. „Gesetzesanwendung“ ist somit zugleich Teilnahme an der Rechtsnormenbildung.
Gesetz und Rechtsnorm sindfolglich nicht dasselbe. In unserer Rechtskultur werden die Rechtsnormen zwar in erster Linie durch die Gesetzgebung festgelegt. Aber erst in der Anwendung durch die Gerichte erhalten sie ihre deutlichere Gestalt. Gesetzesanwendung ist demzufolge keine bloße Schlussfolgerung, sondern darüber hinaus Ausbildung von Wertungen, die das Gesetz präzisieren. Da man aber mit unterschiedlichen Gründen unterschiedlich werten kann, gibt es für einen Konflikt fast nie nur eine richtige Lösung, soweit das Gesetz für unterschiedliche Ausdeutungen Raum lässt.
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Zum Verständnis des Zivilrechts ist ein weiterer Aspekt grundlegend. Es sind nicht nur Gesetz und richterliche Rechtsfindung, aus denen die Lösung von Streitigkeiten hergeleitet werden kann. Häufig haben vielmehr die beteiligten Personen miteinander vorher verabredet, was zwischen ihnen in Bezug auf einen Lebenssachverhalt gelten soll. Eine Vereinbarung, an welche die Beteiligten rechtlich gebunden sein wollen, nennen wir Vertrag. Die Parteien wollen, dass das Vereinbarte für beide Seiten verbindlich ist und notfalls auch mit Hilfe der Gerichte durchgesetzt werden kann. Dass man an geschlossene Verträge grundsätzlich gebundenist, entspricht alter und unangefochtener Rechtsüberzeugung (pacta sunt servanda). Man könnte daher meinen – und manche Rechtstheorien meinen es –, der Vertrag stelle neben Gesetz und richterlicher Normenbildung eine eigenständige Rechtsquelle dar.
Beispiel:
Jemand vermietet einem anderen eine Maschine, dh die Parteien kommen überein, dass der eine Vertragspartner dem anderen den Gebrauch der Maschine überlassen und dass der andere dafür einen bestimmten Preis zahlen soll. Wir können sagen: Aus dem Mietvertrag ist der Vermieter dem Mieter zur Überlassung des Gebrauchs an der Mietsache verpflichtet. Der Vertrag erscheint als die maßgebliche Rechtsnorm, etwa für den Konfliktsfall, dass der Vermieter die Übergabe der vermieteten Sache verweigert.
Man muss allerdings bedenken, dass auf dem Feld des Zivilrechts auch die vertraglichen Regelungen ihre gerichtliche Durchsetzbarkeit letztlich auf die Autorität der staatlichen Rechtsgemeinschaft stützen. Das staatliche Recht legt durch Gesetz und Richterspruch fest, unter welchen Voraussetzungen und in welchen Grenzen das vertraglich Versprochene einklagbar und mit hoheitlichen Mitteln erzwingbar ist. Dabei herrscht unter der Geltung des Grundgesetzes (Art. 2 I GG) das Prinzip der Vertragsfreiheit: Grundsätzlich hat das vertraglich frei Vereinbarte auch zivilrechtliche Geltung. Doch setzt das staatliche Recht der Vertragsfreiheit zugleich Schranken ( Rn 241). Der Vertrag ist also Rechtsquelle im Kontext mit dem staatlichen Recht, das über seine Geltung und Durchsetzbarkeit letztlich bestimmt.
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Sofern die Rechtsordnung einem Vertrag nicht ausnahmsweise die Geltung versagt, kommt folglich dem Vertragstextdie Funktion einer für das konkrete Rechtsverhältnis maßgeblichen Entscheidungsprämissezu. Die Subsumtionstechnik spielt also auch hier eine Rolle. Auch sind vertragliche Bestimmungen nicht anders als gesetzliche der Auslegung fähig und bedürftig.
Zur Technik der Fallentscheidung:Da Verträge im Prinzip rechtsverbindlich sind, ist bei Rechtsstreitigkeiten zunächst zu fragen, ob sich die von einer Partei geltend gemachte Rechtswirkung aus einem Vertrag(oder einem sonstigen Rechtsgeschäft) ergibt. Das Gericht hat zu prüfen:
(a) Ergibt sich die behauptete Rechtsfolge aus einem (behaupteten) Vertragsverhältnis zwischen den Parteien (dessen Gültigkeit unterstellt)?
(b) Wenn ja: Sind die gesetzlichen Regeln über das Zustandekommen wirksamer Verträge im konkreten Fall erfüllt?
(c) Versagt die Rechtsordnung dem Vertrag aus besonderen Gründen die Wirksamkeit (zB mangelnde Geschäftsfähigkeit eines Vertragspartners, §§ 104 ff; Gesetzwidrigkeit des Geschäfts, § 134; Sittenwidrigkeit des Geschäfts, § 138; mangelnde Form, § 125, etc)?
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