Unter „Interesse“verstehen wir in diesem Zusammenhang die subjektive Beziehung einer Person zu einem von ihr begehrten Gegenstand oder Zustand („ich habe ein Interesse daran, eine Sache zu benutzen, in Ruhe zu leben“, etc). Grundlegend für den Rückbezug des Zivilrechts auf Interessen: Jhering , Geist des römischen Rechts, III §§ 60, 61; ferner die Vertreter der sog. Interessenjurisprudenz wie Ph. Heck , Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 1. Der Terminus „Interesse“ kommt auch als Gesetzesbegriffvor und hat dann unterschiedliche Bedeutungen. Im BGB steht „Interesse“ vorwiegend als Bezeichnung des Umfangs von Schadenersatz („Vertrauensinteresse“ – „Erfüllungsinteresse“, Rn 595).
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Die Rechtsnormen beziehen sich infolgedessen auf gedachte (vorausgesehene) Interessenkonflikte und versuchen für diese Konflikte eine verbindliche Entscheidung zu treffen. Die in der Rechtsnorm vorgenommene Wertung hat freilich nicht nur die Interessen der streitbeteiligten Personen (Individualinteressen) im Blickfeld. Die Personen, die in Streit miteinander geraten, leben nicht für sich allein, sondern in der eng verflochtenen, eine große Menschenzahl umfassenden Gesellschaft. Die Gesellschaft trägt kulturell, ökonomisch und politisch bestimmte Strukturen. Die Zivilrechtsnormen müssen so gestaltet sein, dass sie nicht nur einen bestmöglichen Ausgleich der Individualinteressen erstreben; vielmehr muss ihre Summe – zugleich mit der Summe der übrigen Rechtsnormen – ein funktionierendes Ganzesergeben. Bei der Ausgestaltung der Zivilrechtsnormen sind daher auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die öffentlichen Interessen zu berücksichtigen.
4. Zur Gesetzesanwendung: Subsumtion und Rechtsfindung
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Die verbindliche Interessenwertung und ihre Umsetzung in Rechtswirkungen (Rechtsfolgen) sind näher zu betrachten. Als Beispiel diene § 12. Die für unseren Fall 1 bedeutsamen Teile des Textes lauten, wie oben erläutert:
Wird das Recht zum Gebrauch eines Namens dadurch verletzt, dass ein anderer unbefugt den gleichen Namen gebraucht, und sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Berechtigte auf Unterlassung klagen.
In diesem Text kann man eine ähnliche Zweiteilung wie im Text des Falles 1 entdecken.
Der Beispielstextzerfällt in die Schilderung eines historischen Geschehens (Sachverhalt) einerseits („Anton Wimmerl sieht ...“) und die Frage nach einer Rechtsfolge andererseits („Bobo möchte ...“).
Auch der Normtextumschreibt in seinem ersten Teil ein Geschehen („Wird das Recht ...“) und knüpft im zweiten Teil daran die Anordnung einer Rechtsfolge („... so kann der Berechtigte ...“).
Den Voraussetzungsteil einer Normnennen wir Tatbestand. Der Tatbestand enthält im Gegensatz zum Sachverhalt nicht die Beschreibung eines einmalig-historischen Geschehens, sondern ein in abstrakten Merkmalen erfasstes Geschehensprogramm, das in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen erfüllt werden kann. Denn der Zweck der Norm ist nicht die Entscheidung bloß eines Einzelfalles, sondern einer unbestimmten Vielzahl gleich gelagerter Fälle.
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Das Gericht hat folglich zu untersuchen, ob der zur Entscheidung stehende Sachverhalt den Tatbestand der Norm erfüllt, dh ob die abstrakt formulierten Geschehensmerkmale des Tatbestands sich im konkret-historischen Geschehen des Sachverhalts wieder finden. Es findet ein einfaches Schlussverfahren statt, etwa nach folgendem Vorbild:
Obersatz |
|
Untersatz |
Schlussfolgerung |
Wer zur Kirche geht, |
ist fromm. |
Josef Maier geht oft zur Kirche. |
Also ist Josef Maier fromm. |
Auf unser Beispiel übertragen sieht das Schema wie folgt aus:
Obersatz |
|
Untersatz |
Schlussfolgerung |
Wenn jemand das Recht zum Gebrauch eines Namens eines anderen dadurch verletzt, dass er unbefugt den gleichen Namen gebraucht, und wenn weitere Beeinträchtigungen zu besorgen sind, |
dann kann der Berechtigte auf Unterlassung klagen. |
W hat das Recht zum Gebrauch des Namens des B verletzt, indem er dessen Namen unbefugt benutzte, und es besteht Wiederholungsgefahr. |
Also hat B gegen W Anspruch auf Unterlassung des unbefugten Namensgebrauchs. |
Den Obersatzbildet die vorgefundene Rechtsnorm(hier § 12 BGB), die in Tatbestand (linke Spalte) und abstrakt angeordnete Rechtsfolge (rechte Spalte) zerfällt. Untersatzist der Lebenssachverhalt, den der Richter zu beurteilen hat. Als Schlussfolgerungkann der Richter dann die konkrete Rechtsfolgeermitteln. |
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Das Schwierigste dabei ist die Bildung des Untersatzes, dh die Feststellung, ob sich die abstrakten Merkmale des Tatbestandes im konkreten Sachverhalt wieder finden. Zu diesem Zwecke muss jede einzelne Tatbestandsvoraussetzung auf ihre Verwirklichung im Sachverhalt untersucht werden.
In unserem Fall ist also genau zu prüfen:
1) Gebraucht W den Namen des B?
2) und zwar unbefugt?
3) Wird dadurch das Recht des B an diesem Namen verletzt?
4) Besteht Wiederholungsgefahr?
Wenn wir alle diese Fragen bejahen, dann tritt die von B gewünschte Rechtsfolge ein.
Ist der Untersatz gebildet, so steht das Ergebnis unausweichlich fest. Entweder der Sachverhalt erfüllt den Tatbestand, dann ist die Rechtsfolge zu bejahen. Oder der Sachverhalt erfüllt den Tatbestand nicht, dann ist die Rechtsfolge zu verneinen. Die Prüfung, ob sich in einem Sachverhalt die Elemente eines Normtatbestandes wieder finden, nennt man Subsumtion: Der Sachverhalt wird unter den Tatbestand subsumiert.
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Über die Subsumtion sind einige Fehlvorstellungenim Umlauf:
(1) In der Subsumtion wird gelegentlich etwas Naiv-Simples gesehen, das mit Wissenschaft nichts zu tun hat. Das ist ein Missverständnis. Die Aufgabe der Streitbewältigung ist rational nur so möglich, dass der jeweilige Konflikt aus seiner Vereinzelung gelöst und im Zusammenhang mit vielen als möglich vorausgesehenen gleichen oder ähnlichen Konflikten bewertet wird. Aus solchen Wertungen werden allgemeine Regeln gebildet, nach denen der Einzelkonflikt entschieden wird. Die Fallentscheidung nach vorgegebenen Regeln ist ein Kernstück juristischer Arbeit und bildet keinen Gegensatz zur rechtswissenschaftlichen Forschung. Denn wissenschaftliche Aussagen sind den Rechtssätzen darin ähnlich, dass sie allgemein sind, dh sich auf eine unbestimmte Vielzahl von Sachverhalten beziehen. Auch in der Wissenschaft muss also der Blick zwischen den zu bewältigenden Einzelfällen und der Theoriebildung hin und her wandern. Auch hier muss also „subsumiert“ werden, wenn die Tragweite einer theoretischen Aussage richtig eingeschätzt werden soll.
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(2) Es besteht ferner die irrige Vorstellung, dass die juristische Tätigkeit allein in der Subsumtion bestehe und dass die Subsumtion ein der mathematischen Schlussfolgerung wesensgleicher Vorgang sei. Das Bild von der juristischen Tätigkeit sähe dann so aus: Im Rechtssatz, gewöhnlich also im Gesetz, ist dem Juristen eine klare und unzweifelhafte Prämisse vorgegeben. Die Subsumtion ist eine bloße Angelegenheit der Logik. Es kann daher nur eine richtige Lösung geben, die durch bloße Anwendung der Denkgesetze erreicht wird. Dem ist aber nicht so.
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Fall 2:
Anton (A) und Berta (B) haben sich die Ehe versprochen und wollen bald heiraten. Die Eltern der B haben für die beiden eine Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer als Hochzeitsgeschenk gebucht. Kurz vor der Hochzeit erfährt A, B habe sich, bevor sie ihn kennen lernte, mit einer großen Zahl von Männern eingelassen und es „ganz toll getrieben“. A schreibt B, er müsse zu seinem Bedauern von der Eheschließung Abstand nehmen.
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