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Dem Verteidiger gibt diese Rechtsprechung die Möglichkeit, bei einzelnen streitigen Grundsatzfragen vereinfacht, ohne seinen Einspruch näher begründen zu müssen, unter Hinweis auf derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren die Aussetzung des Verfahrens anzuregen oder dem von der Finanzbehörde angeregten Ruhen des Verfahrens zuzustimmen (§ 363 Abs. 2 AO) und damit den Steuerbescheid für diesen Teil offen zu lassen. Das Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 AO entspricht für seinen Umfang („insoweit“) den zivilrechtlichen Wirkungen der Aussetzung oder des Ruhens des Verfahrens (§§ 249, 252 ZPO).[72] Während der Dauer der Aussetzung oder des Ruhens des Verfahrens dürfen gegenüber den Beteiligten keine Verfahrenshandlungen ergehen. Die Aussetzung und die Ablehnung der Aussetzung sind Ermessensverwaltungsakte, ein Anspruch auf Ruhen besteht nicht.[73] Die Anordnung der Aussetzung oder das Ruhenlassen des Verfahrens sind selbstständig anfechtbar. In allen anderen Fällen kann die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nur mit der Klage gegen die Einspruchsentscheidung geltend gemacht werden, § 363 Abs. 3 AO.[74] Zu beachten ist aber, dass eine Aussetzung der Vollziehung regelmäßig mit der Verfahrensaussetzung nicht verbunden ist, diese deshalb nur Sinn macht, wenn die Steuer bereits bezahlt ist.
d) Aussetzung der Vollziehung (§ 361 AO, § 69 FGO)
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Oftmals von existenzieller Bedeutung ist die Aussetzung, bzw. bei bereits erfolgter Beitreibung, die Aufhebung der Vollziehung von Steuerbescheiden, die im Zusammenhang mit einem Steuerstrafverfahren erlassen worden sind.[75] Die Aussetzung der Vollziehung soll nach § 361 Abs. 2 S. 3 AO erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige , nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
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Im Verfahren über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines Bescheids, dessen Rechtmäßigkeit davon abhängt, ob der Steuerpflichtige eine Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begangen hat, ist nach § 361 AO, § 69 FGO zu prüfen, ob ernsthafte Zweifel daran bestehen, dass der Steuerpflichtige die Straftat begangen hat.[76] Hier muss der Verteidiger gegebenenfalls dann unmittelbar gegenüber dem Finanzamt seine Zweifel an der Richtigkeit des Ermittlungsergebnisses der Steuerstrafbehörden ausführlich begründen.
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Regelmäßig besteht die Tendenz der Veranlagungsstellen, die Vorgaben aus den Steuerfahndungsberichten weitgehend ungeprüft zu übernehmen. Soweit diese auf Schätzungen beruhen, lohnt es sich oftmals mit konkreten Argumenten gegen die Schätzungsgrundlagen, vor allem aber auch mit dem Hinweis auf die fehlende Realisierbarkeit der geschätzten Steuerforderungen, zunächst schriftlich vorzutragen und anschließend gegebenenfalls die Argumente nochmals im persönlichen Gespräch an Amtsstelle zu erörtern.[77]
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Ist es problematisch, die Aussetzung der Vollziehung zu erreichen, wird in der Mehrzahl der Fälle die Aussetzung dann möglich sein, wenn man Sicherheiten anbietet. Die Sicherheitsleistung ist kein Anerkenntnis. Fordert das Finanzamt eine Sicherheit, die der Steuerpflichtige aufgrund seiner Vermögensverhältnisse nicht erbringen kann, ist dies unzulässig. Auch das Gebot der Sicherheitsleistung steht unter dem Übermaßverbot. Eine Sicherheit darf nicht gefordert werden, wenn und soweit es dem Steuerbürger trotz zumutbarer Anstrengungen nicht möglich ist, Sicherheiten zu leisten.[78]
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Die Entscheidung, ob die Aussetzung der Vollziehung gegen oder ohne Sicherheitsleistung ausgesprochen werden soll, ist eine gerichtlich nur auf Ermessensfehler nachprüfbare Ermessensentscheidung . Ein Ermessensfehler liegt vor, wenn eine Sicherheitsleistung gefordert wird,[79] obwohl mit Gewissheit oder mit großer Wahrscheinlichkeit in der Hauptsache eine für den Steuerpflichtigen günstige Entscheidung zu erwarten ist. Hier besteht dann kein Interesse an der Sicherheitsleistung.[80]
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Gegen die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung kann entweder Einspruch beim Finanzamt eingelegt oder unmittelbar über einen Antrag nach § 69 Abs. 3 und Abs. 5 S. 3 FGO das Finanzgericht angerufen werden (§ 361 Abs. 5 AO). In Einzelfällen (etwa bei vom Finanzamt noch nicht entschiedenem Aussetzungsantrag) sind auch beide Wege nebeneinander zulässig.[81]
[1]
Vgl. zum Verhältnis Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren DB 2013, 1803 ff. m.w.N.; Klein- Jäger § 393 Rn. 1; ausführlich Kohlmann- Hilgers-Klautzsch § 393 Rn. 48; HHSp- Hellmann § 393 Rn. 11 ff., 32 ff. sowie Böse wistra 2003, 47; List DB 2006, 469; Wulf wistra 2006, 89; grundlegend die Habil.-Schrift v. Reiß S. 250; zur Praxis Burkhard AnwBl. 2003, 70.
[2]
BFH /NV 2006, 15; 2007, 400; 2010, 4; 2011, 965: „… unabhängig und gleichrangig nebeneinander“; BVerfG v. 27.4.2010-2 BvL13/07 HFR 2010, 1222; u. v. 19.3.2013 NJW 2013, 1058; Klein- Jäger § 393 12. Aufl. Rn. 1; Kohlmann -Hilgers-Klautzsch § 393 Rn. 31 „ein Vorrang des Strafverfahrens ist nach der gesetzgeberischen Konzeption nicht vorgesehen“; Joecks /Jäger/Randt § 393 Rn. 18.
[3]
Zur Konfliktlage Kohlmann- Hilgers-Klautzsch § 393 Rn. 31 ff., 44 ff.; Reiß S. 250.
[4]
Vgl. hierzu unten Rn. 149 ff.
[5]
Dies sind neben den Sachbearbeitern eines Finanzamts im Innendienst auch der Vorsteher sowie die Sachgebietsleiter, im Außendienst etwa Betriebsprüfer, Lohnsteuer-Prüfer, Umsatzsteuer-Sonderprüfer, str. für Großbetriebsprüfer trotz organisatorischer Zugehörigkeit zur OFD; hierzu Kohlmann- Peters § 397 Rn. 15.
[6]
S.u. Rn. 128 ff.; vgl. etwa Klein- Rüsken § 208 Rn. 4 f.
[7]
Zum „Nemo-tenetur-Grundsatz“ HHSp- Hellmann § 393 Rn. 14; Kopf/Szalai NJW 2010, 363; Rolletschke wistra 2004, 246; Wulf wistra 2006, 89; vgl. Kohlmann- Hilgers-Klautzsch § 393 Rn. 34 ff., 42 ff.; Klein- Jäger § 393 Rn. 26.
[8]
Denkbare Lösungsansätze für die Konfliktbewältigung wären: a) keine steuerlichen Mitwirkungspflichten; b) fortbestehende Mitwirkungspflichten, aber Zwangsmittelverzicht; c) erzwingbare Mitwirkungspflichten bei strafrechtlichem Verwertungsverbot; d) Aussetzung des Besteuerungsverfahrens bis zur strafrechtlichen Entscheidung; vgl. Kohlmann- Hilgers-Klautzsch § 393 Rn. 19 f .
[9]
Zwangsgeld, Ersatzvornahme, unmittelbarer Zwang, praktisch im Steuerrecht nur das Zwangsgeld ( § 329 AO ) bis 25.000 € , nicht das seit 2009 eingeführte Verzögerungsgeld § 146 Abs. 2b AO oder die Festsetzung eines Zuschlags nach § 162 Abs. 4 i.V.m. § 90 Abs. 2 AO.
[10]
Kohlmann- Hilgers-Klautzsch § 393 Rn. 45; Joecks /Jäger/Randt § 393 Rn. 21 ff.
[11]
„Die Belehrungspflicht erstreckt sich auf die Gesamtregelung des Abs. 1“, Kohlmann- Hilgers-Klautzsch § 393 Rn. 143 m. Hinw. Schwarz- Dumke § 393 Rn. 28, 30, vgl. hierzu Nr. 16 Abs. 3 und Nr. 29 AStBV (St) 2014.
[12]
Vgl. hierzu aus der Literatur zu Schätzungen : HHSp- Hellmann § 393 Rn. 73-75; Klein- Jäger § 393 Rn. 20 ff.; zu Strafschätzungen : HHSP- Hellmann § 393 Rn. 76; Dierlamm StraFo 1999, 289 ff.; Bilsdorfer PStR 2001, 240; zur Ausschlussfrist § 364b AO: Streck/Spatschek wistra 1998, 339; Kohlmann- Hilgers-Klautzsch § 393 Rn. 70; betr. Ladung und Abgabe der eidesstattlichen Versicherung , § 284 AO: nach BFH wistra 2002, 191 sogar zulässig bei zuvor erfolgter Einleitung des Steuerstrafverfahrens zwecks Beitreibung der umstrittenen und Ermittlungsgegenstand gewordenen Steueransprüche, außerdem BGH wistra 2012, 482; zustimmend Klein- Jäger § 393 Rn. 23 unter Hinw. auf BVerfG NJW 2005, 352; ablehnend Kohlmann- Hilgers-Klautzsch § 393 Rn. 71.
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