Teil 1 Allgemeine Grundfragen› II. Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren› 1. Bindung an Entscheidungen anderer Gerichte und Behörden
1. Bindung an Entscheidungen anderer Gerichte und Behörden
a) Bindung des Finanzgerichts
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Das Finanzgericht ist an die tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen der Finanzbehörde und des Strafgerichts als Ausfluss des Gewaltenteilungsgrundsatzes grundsätzlich nicht gebunden.[37] Die Frage der Steuerhinterziehung oder der leichtfertigen Steuerverkürzung ist für das Finanzgericht lediglich eine Vorfrage, über die es im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung selbstständig zu entscheiden hat. So besteht bei lediglich selektiver Sachverhaltsermittlung des Strafgerichts, etwa im Rahmen einer Verfahrensabsprache, durchaus die Möglichkeit, weitere tatsächliche Feststellungen zu treffen, Beweise anders, bzw. die Rechtslage abweichend vom Strafgericht zu würdigen. Das Finanzgericht wird sich allerdings regelmäßig an die „Vorgaben“ eines strafgerichtlichen Urteils halten, eine durchaus „revisionssichere“ Praxis. Das Finanzgericht kann sich nämlich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs durchaus in tatsächlicher Hinsicht die Feststellungen eines in das finanzgerichtliche Verfahren eingeführten Strafurteils zu Eigen machen, es sei denn, dass die Beteiligten gegen die strafrechtlichen Feststellungen substantiierte Einwendungen vortragen und entsprechende Beweisanträge stellen, die das Finanzgericht nach den allgemeinen, für die Beweiserhebung geltenden Grundsätzen, nicht unbeachtet lassen kann.[38] Das Finanzgericht Berlin[39] nimmt weitergehend für einen Einzelfall bei § 71 AO eine Bindungswirkung im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung, nicht hingegen bei einem Freispruch an.
b) Bindung des Strafgerichts
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Umgekehrt ist auch das Strafgericht nicht an die Sachverhaltsfeststellung und Rechtsauffassung des Finanzgerichts gebunden. Es besteht volle Vorfragenkompetenz . Das Strafgericht entscheidet im Rahmen seines Verfahrens auch über das objektive Bestehen des Besteuerungsanspruchs, den der Täter einer Steuerstraftat verkürzt haben muss, wenn er wegen Steuerhinterziehung oder leichtfertiger Steuerverkürzung strafgerichtlich verurteilt werden soll.[40]
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Das Strafgericht kann den Besteuerungsanspruch bejahen, den der Finanzrichter verneint hat und zu einer Verurteilung gelangen oder umgekehrt. Sich widersprechende finanzrichterliche und strafrichterliche Entscheidungen im objektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung oder leichtfertigen Steuerverkürzung sind gewiss misslich, aber vom Gesetzgeber in Kauf genommen worden.[41] In der Praxis wird sich – je nachdem, welches Gericht zuerst entscheidet – das Finanz- bzw. das Strafgericht die tatsächlichen bzw. rechtlichen Feststellungen des jeweils anderen schon aus Praktikabilitätserwägungen zu Eigen machen. Daher kann es sich als Trugschluss erweisen, z.B. im finanzgerichtlichen Prozess auf die Einzelheiten der Steuerstraftat bzw. im Strafprozess auf die Einzelheiten der Besteuerungsgrundlagen wenig Wert zu legen. Zugeständnisse, die im strafrechtlichen Urteil niedergelegt sind, haben im finanzgerichtlichen Verfahren sehr wohl ihre Bedeutung und sind nur schwer zu widerlegen, es sei denn, es liegen substantiierte Einwendungen vor.[42] Hier sollte vorsorglich durch eine Erklärung zu Protokoll klargestellt werden, dass Zugeständnisse im Strafprozess nicht für das finanzgerichtliche Verfahren gelten. Umgekehrt hat die Zustimmung zur tatsächlichen Verständigung im finanzgerichtlichen Prozess nicht selten faktischen Geständnischarakter für den Strafprozess, auch wenn dies im Rechtssinn nicht richtig ist.[43]
c) Bindung der Finanzbehörde
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Die Finanzbehörde ist an die tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen des Strafgerichts oder des Finanzgerichts ebenfalls nicht gebunden. Für die Finanzbehörde liegt es jedoch auch hier aus praktischen Gründen nahe, den von dem Strafgericht festgestellten Sachverhalt zu übernehmen.[44]
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Streitig ist dagegen, ob die Veranlagungsstelle an Entscheidungen der Straf- und Bußgeldsachenstelle über die Steuerhinterziehung oder die leichtfertige Steuerverkürzung gebunden ist oder nicht.[45] Die für die Festsetzung von Hinterziehungszinsen zuständige Veranlagungsstelle prüft in den Fällen einer wirksamen Selbstanzeige zwar vom Grundsatz her regelmäßig selbst, ob eine Steuerhinterziehung vorliegt, wird jedoch, wie bei Fällen der steuerlichen „Hinterzieherhaftung“ auch, in Zweifelsfällen die Straf- und Bußgeldsachenstelle befragen und deren Wertung einer Entscheidung zugrunde legen.[46] Hat die Straf- und Bußgeldsachenstelle das Verfahren wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO bzw. § 398 AO eingestellt, so ist die Veranlagungsstelle dennoch nicht gehindert, eine Steuerhinterziehung anzunehmen. Praktisch geschieht dies in Zeiten knapper Kassen immer häufiger. Entsprechende auf straf- oder bußgeldrechtlicher Grundlage ergehende (Haftungs-, Hinterziehungszinsbescheide) oder geänderte Steuerbescheide (5- oder 10-jährige statt 4-jähriger Festsetzungsverjährung) sind mit guten Erfolgsaussichten vor dem Finanzgericht anzufechten.
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Eine besondere praktische Bedeutung für die Finanzbehörde als Strafverfolgungsbehörde haben die „Anweisungen für das Straf- und Bußgeldverfahren (Steuer)“, abgekürzt AStBV(St) 2014.[47] Diese Anweisungen wurden vom Bundesfinanzministerium zusammen mit den AO-Referenten der Landesfinanzministerien verfasst und in ihrer überarbeiteten Fassung mit Schreiben des Bundesfinanzministeriums den obersten Finanzbehörden der Länder mitgeteilt. Sie haben keine unmittelbare Weisungswirkung und sind auch nicht in allen Bundesländern für anwendbar erklärt worden. Sie verdienen aber insoweit tatsächliche Beachtung, als sie weitestgehend auch eine Verwaltungspraxis wiedergeben, deren Kenntnis den Verteidiger in die Lage versetzt, kommendes Handeln der Finanzbehörde einzuschätzen.[48] Bindungswirkung für Gericht oder Staatsanwaltschaft hat diese Verwaltungsanweisung natürlich in keiner Weise.
Teil 1 Allgemeine Grundfragen› II. Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren› 2. Aussetzung des Verfahrens
2. Aussetzung des Verfahrens
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Im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsordnung sollten widersprechende strafgerichtliche und finanzbehördliche Entscheidungen nach Möglichkeit wenigstens in derselben gerichtsanhängigen Rechtssache vermieden werden, da sie der Rechtssicherheit abträglich sind.
a) Aussetzung des Strafverfahrens
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Nach § 396 AO kann das Strafverfahren ausgesetzt werden, wenn die Beurteilung der Tat [49] zunächst von der Vorfrage abhängt, ob ein Steueranspruch besteht, ob Steuern verkürzt oder ob nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt sind.[50] Die Vorschrift ermöglicht die Aussetzung des Strafverfahrens bis zum rechtskräftigen Abschluß des Besteuerungsverfahrens, wenn das Vorliegen des objektiven Tatbestands einer Steuerhinterziehung fraglich ist. Die Möglichkeit der Verfahrensaussetzung soll widersprüchliche im Besteuerungs- und Strafverfahren (über § 410 Abs. 1 Nr. 5 AO auch Bußgeldverfahren) vermeiden helfen.[51]
Beispiel:
Die Angeklagte hatte sich gegen Versprechen einer Provision bereit erklärt, einem Immobilienkäufer beim Erwerb eines Grundstücks in Berlin behilflich zu sein. Nach dem Kaufabschluss erhielt sie für ihre Mitwirkung 2,5 Mio. €, obwohl sie nach außen hin kaum tätig geworden war. Unter Mitwirkung des mit angeklagten Steuerberaters gab sie diese Einkünfte nicht bei der Einkommensteuererklärung an. Die Berufungsinstanz hatte beide Angeklagte zu Freiheitsstrafen verurteilt. Das FG war in AdV-Verfahren wie erstinstanzlichem Klageverfahren von steuerpflichtigen „sonstigen Leistungen“ i.S.d. § 22 Nr. 3 EStG ausgegangen. Die Revision hiergegen wurde vom BFH zugelassen, war aber zum Entscheidungszeitpunkt des Strafurteils noch nicht entschieden. Die strafrechtliche Revision rügte u.a., dass das Landgericht den Antrag auf Aussetzung des Verfahrens nach § 396 AO zu Unrecht abgelehnt habe. Die Sachrüge wendet sich gegen die Einkommensteuerpflicht der Provisionszahlung. Das BayObLG hat die Revision in beiden Punkten als unbegründet angesehen:
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