Als die Zensur andere Flugblätter und Briefe abfängt, verhängt die Polizei eine Postkontrolle über die Familie. 85Sie sei dringend verdächtig, aus der Schweiz „revolutionäre Flugschriften nach Deutschland zu schmuggeln. [An die] Familie Ulbricht in Leipzig […] sind bereits mit Kenntnis der hiesigen Dienststelle Flugschriften abgegangen mit dem Titel: ‚Kameraden an der Front! Genossen in Uniform!‘ in denen zum Sturz des ‚Berliner Zaren‘ nach Petersburger Beispiel aufgefordert wird. Neuerdings ist auch mit hiesigem Einverständnis ein Brief an Erich Ulbricht […], in dem unsere innenpolitischen Umstände aufs Schärfste im revolutionären Sinne angegriffen werden, befördert worden“ 86.
Im Oktober 1917 erkrankt Walter in Mazedonien an Malaria und kommt in Skopje ins Lazarett. Zu Silvester ist er auf Heimaturlaub und feiert mit seiner Mutter bei Freunden in Leipzig Neujahr. 87Die Eltern sind in das Naundörfchen 26 umgezogen, er lernt die neue Wohnung der Familie kennen. Hinter der Hauptfeuerwache am Fleischerplatz stehen meist eingeschossige, dicht aneinandergereihte Häuser, viele mit Fachwerk. Es ist eine Arme-Leute-Gegend.
Die freie Zeit nutzt er, um sich mit der Leipziger Liebknechtgruppe, jetzt Spartakusgruppe genannt, zu treffen, und tritt der sozialistischen USPD bei, die sich als Folge des Streits über die Kriegsfrage von der SPD abgespalten hat. Die Entscheidung ist nicht opportunistisch. Allein seine Mitgliedschaft in USPD und Spartakusgruppe ist Hochverrat. Wer sich engagiert, hat anderes im Blick als ein bürgerliches Dasein. Der SPD-Parteivorstand weist seine Vorstände an, Verhafteten keinen Schutz oder Hilfe zu gewähren.
Verfolgt und von SPD und Gewerkschaften denunziert, muss Walter vorsichtig sein. 88Er weiß, dass er mit Ausgrenzung, Ächtung und Haft rechnen muss. Auch seine Ermordung gehört zu seinen Perspektiven.
In Russland kommt es am 7. November 1917 zum Sturz der provisorischen Regierung durch die kommunistischen Bolschewiki unter Lenin und Trotzki. Bereits drei Wochen später schlägt Trotzki einen Waffenstillstand vor, um die revolutionäre Macht im kriegsmüden Russland zu stabilisieren. Als sich die Unterhändler in Brest-Litowsk treffen, versuchen die Bolschewiken, die Verhandlungen in die Länge zu ziehen, Zeit zu gewinnen und Stimmung für ihre Revolution zu machen. Was die Aussichten für einen Umsturz durch die deutschen Sozialisten betrifft, ist Moskau aber realistisch. „Als revolutionäre Partei sind die Unabhängigen (USPD) völlig hoffnungslos und untauglich. […] Die Spartakusleute fürchten Verhaftungen, sind hauptsächlich jung, […] sie können nur unter Anleitung arbeiten […], und sie bilden sich ein, dass wenn sie alle Schaltjahre einmal einen Proklamationswisch herausbringen […], dass dies sogar schon ein Übermaß revolutionärer Umtriebe sei.“ 89
Zurück in Skopje wird Walter aus dem Feldlazarett entlassen und schreibt im Januar 1918 seiner Familie aus Mazedonien. Am 3. März 1918 unterzeichnet die Oberste Heeresleitung in Brest-Litowsk einen harten Friedensvertrag mit Sowjetrussland. Es scheint, als könne Deutschland den Krieg noch gewinnen, sollte die Reichswehr vor dem Eintreffen der Amerikaner einen Durchbruch im Westen erreichen. Um das Ruder noch herumzureißen, beginnt jetzt die deutsche Frühjahrsoffensive im Westen. Auch Walter kommt zur Infanterie an die Westfront. Die Stimmung unter den Soldaten im Zug ist schlecht. Die ersten unter ihnen desertieren schon in Ungarn. In Böhmen kommt es zur Meuterei. Auf einem Halt beschweren sich die Soldaten über schlechtes Essen und schütten ihre Rationen auf den Bahnsteig.
Die Soldaten weigern sich, wieder einzusteigen, bevor es nicht anständiges Essen gibt. Erst als sie Wurst bekommen, kann der Zug weiterfahren. Kurz vor Leipzig desertiert Walter und springt aus dem fahrenden Zug ab. Bis Köln verschwindet die Hälfte des Transports. In Leipzig angekommen, trifft sich Walter mit seinen Freunden von der Spartakusgruppe sowie dem Leipziger USPD-Vorsitzenden und Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung Friedrich Seger. Er hört auf dem SPD-Sekretariat von den Gefahren der Desertion und erhält den Rat, zur Truppe zurückzukehren. Nach zwei Wochen meldet er sich als „von der Truppe abgekommen“ bei den Behörden. Vom Militärgericht erhält er darauf drei Monate Gefängnis.
Ungeachtet aller Hoffnungen erlahmt die Offensive im Westen schnell. Die Initiative geht endgültig auf die Entente über, die Niederlage ist besiegelt. Die Moral sinkt auf den Nullpunkt, da das Unternehmen als letzte Anstrengung vor dem Sieg verkauft worden ist.
Die Armee ist jetzt kaum mehr zur Defensive fähig. Die Oberste Heeresleitung wirft die letzten Kräfte an die Front, um den Zusammenbruch zu vermeiden. Auch Walter wird nach vier Wochen Haft nach Belgien eskortiert. Dort drillt ihn die Infanterie auf verschiedenen Übungsplätzen und schickt ihn direkt an die Front. Unterwegs desertiert er, aber die Militärpolizei greift ihn – mit Flugblättern im Gepäck – auf. Wegen Entfernung von der Truppe wandert er in Charleroi zurück in den Arrest. Zu einer Anklage kommt es aber nicht mehr.
Als die Nachricht vom Kieler Matrosenaufstand an der Front eintrifft, flieht er heimlich aus dem provisorischen Gefängnis. Seine Einheit wählt einen Soldatenrat und löst sich auf. Mit einem Transportzug fährt Walter durch die Ardennen bis nach Frankfurt und von dort auf dem Tender einer Lokomotive nach Leipzig. 90






Revolutionär
Der Kaiser hat abgedankt, die Republik ist ausgerufen, doch für viele ändert sich wenig an Armut und Misere. Lebensmittel, Rohstoffe und Heizmaterial sind knapp, Deutschland ist ruiniert. Der Krieg hat Millionen Verwundete und Tote gefordert. Jetzt heißt es wählen – bürgerliche Republik oder Sowjetdeutschland.
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