Mithilfe der Buchdruckerei Müller in Schkeuditz druckt die Gruppe die Reichstagsrede gegen den Krieg in Leipzig. Bei der nächsten Zusammenkunft beschließt die Gruppe, in der kommenden Funktionärskonferenz Leipzigs zu sprechen. Auf der nächsten Versammlung der Leipziger SPD fordert Walter wie besprochen, die SPD solle jetzt gegen weitere Kriegskredite stimmen. Als er versucht, eine Resolution gegen die Politik des Parteivorstands durchzubringen, greift ihn der Bezirksvorstand scharf an. Die Bezirksleitung verhindert die Abstimmung und lehnt Walters Antrag ab. Drohend fragt die Leitung ihn rhetorisch, warum das Militär ihn noch nicht eingezogen habe. Auf der nächsten Versammlung im Januar 1915 geht Walter weiter auf Konfrontation. Er hält eine leidenschaftliche Rede gegen die Kriegskredite und verlangt vom Vorstand, objektiv über Liebknechts Reichstagsrede zu informieren. Zwar verhindert die Leitung wieder einen Beschluss, aber Walter erhält den Beifall der Versammlung. Die Admiralität erklärt am 4. Februar 1915 die Nordsee zum Kriegsgebiet. Ab jetzt wird jedes in diesem Kriegsgebiet angetroffene feindliche Kauffahrtschiff zerstört werden. Die Gruppe um Walter greift den U-Boot-Krieg in Flugblättern scharf an 74und verbreitet Titel wie „Disziplinbrüche“, „Parteidisziplin“, „Die Welt speit Blut“, „Der Hauptfeind steht im eigenen Lande“, „Wohin geht die Reise“.
Immerhin kehrt Walter zur Arbeit zurück. Er arbeitet wieder als Tischler bei Gustav Heinrich, doch auch diese Stelle hält ihn nicht lange. Walter ist rastlos. Die Partei ist ihm wichtiger.
Jetzt zieht die Armee auch Liebknecht ein. Bis auf sein Auftreten im Reichstag und im Preußischen Abgeordnetenhaus ist ihm damit als Militär jede politische Arbeit verboten. Trotzdem bleibt er die Leitfigur der Friedensbewegung. Im März verbreiten die Jugendlichen, die sich jetzt „Gruppe Liebknecht“ nennen, als Reaktion auf Liebknechts Aushebung ein Flugblatt mit dessen Rede im Preußischen Landtag in größerer Auflage.
Die Partei sieht Walter als Unruhestifter. Um ihn auszuschalten, denunziert die Bezirksleitung unter Lipinski ihn wie schon angedroht bei der Reichswehr als Kriegsgegner. Kurz darauf zieht das Heer ihn im Mai zum Kriegsdienst ein. Zum Abschied schenkt er seiner Freundin Martha den Band „Lebensfreude, Sprüche und Gedichte“ mit der Widmung „Vorwärts sehen, vorwärts streben, keinen Raum der Schwäche geben, Schönem und Edlem allzeit hold! Wahlspruch – Meiner Freundin – Frühjahr 1915 – Walter“ 75.
Nach einer kurzen Ausbildung in der Prinz Johann Georg Kaserne in Gohlis und auf dem Übungsgelände in Lindenthal kommt Walter als Handwerker beim Wagenbau zur Fuhrpark-Kolonne im Trainbataillon 19. Der Gefreite dient vier Jahre im Königlich Sächsischen 8. Infanterie-Regiment Prinz Johann Georg Nr. 107 in Galizien und Polen, dann in Serbien und Mazedonien. Beim Militär ist er als „Roter“ bekannt. Sein Dienst wirkt auf ihn wie ein Strafbataillon: Es ist ihm „zeitweilig beinahe unmöglich, mit den Kameraden ein auch nur einigermaßen vernünftiges Wort zu reden“ 76.
Zu Ostern 1916 versammeln sich die oppositionellen SPD-Jungfunktionäre im Vegetarischen Speisehaus „Academia“ in Jena. Die Konferenz findet wegen des Belagerungszustands unter schwierigen Bedingungen statt. Allen Teilnehmern droht für ihre Teilnahme an der Konferenz Haft, Gefängnis, Schutzhaft und Einberufung zum Heer. Zur Tarnung ist die Zusammenkunft als Treffen der Naturfreunde angemeldet. Die Leipziger Delegierten schicken Walter in Briefen Bruchstücke von den Ergebnissen der Konferenz an die Front. Walter deutet in seiner Antwort an, dass er „draußen“ weiterlernt. Auch der Kontakt zur Schweizer sozialistischen Jugend, die er noch von seiner Wanderschaft kennt, besteht weiter. Aus Basel bittet Jacob Herzog die Familie um Neuigkeiten von Walter, da er von ihm keine Nachricht mehr habe und ihm seine Adresse unbekannt sei. Er bittet, ihm nach Erhalt der Karte eine Nachricht zu senden und ihm „die Bücher“ per Post zu schicken. 77Die Regierung ist über die Opposition im Bilde. Im Sommer gibt das Kriegsministerium den Befehl, Aktivisten wie die Familie Ulbricht mundtot zu machen, einzuziehen oder zu verhaften. Auch der Parteivorstand und die Gewerkschaften sind Aktivisten wie Walter feindlich gesonnen.
Auf die Flugblätter reagieren sie unverhohlen: „In anonymen Flugblättern […] wird versucht, Hass und Misstrauen gegen die von den Arbeitern selbst gewählten Vertrauensleute zu säen. […] Es wird der Vorwurf erhoben, dass sie die sozialistischen Grundsätze preisgeben, die Beschlüsse deutscher Parteitage und internationaler Kongresse missachten.“ 78Die Parteibürokratie versucht alles, um die Opposition mundtot zu machen. In einem geheimen Rundschreiben an die Leipziger Ortsvereine wird das Auftreten der Jungfunktionäre verurteilt. Genossen wie Willi Langrock, Wolff, Lungwitz und Alwin Herre werden verhaftet und zu Gefängnis verurteilt. Der Kriegsdienst schützt Walter vorerst vor der Haft.
Es gärt in Deutschland. Nach Reformversprechen des Kaisers streiken im April 1917 allein in Berlin 300 000 Menschen 79. Auch in Leipzig kommt es zu Streiks, als die Regierung erneut die Brotrationen kürzt. Die Forderungen werden zunehmend politisch. Die Demonstranten verlangen Reformen und Friedensverhandlungen. Als Reaktion greift das Militär hart durch, Betriebe werden besetzt und Streikende an die Front geschickt.
Familie Ulbricht gelingt es, trotz allem feinsinnig zu bleiben. Schwester Hildegard schreibt frei nach Heine zur Maifeier: „Die großen Birnbäume im Garten sind von weißen Blüten schon überschüttet, der die Luft angenehm mit seinem Duft erfüllt. Die kleinen Spatzen können sich gar nicht von den schönen Blüten trennen, sie scheinen […] sehr gut zu schmecken. […] Im Walde ist herrliches Vogelkonzert, dass ein Kuckuck durch seinen unaufhörlichen Ruf noch lebendiger und reizvoller gestaltet. – So wandelten wir […] in Freude – und erwartungsedler Stimmung auf weichen Pfaden unter dem schattigen Laubzelt des Waldes nach Markkleeberg […] auf [die] Frühlingsfeier. Am Abend wanderten wir […] mit fröhlichem Sang durch den dunklen Wald. Über uns funkelten am klarblauen Himmel die kleinen freudigen Sternenkinder wie Diamanten. Und zur Linken floss träge das lehmbraune Wasser der Pleiße. […] In der Woche nach Pfingsten wird endlich mein Bruder hier sein. Meine Freude ist ganz unbeschreiblich.“ 80
Walters Fronturlaub bleibt kurz, aber er nutzt ihn. Nach seiner Rückkehr an die Front bedankt sich Jacob Herzog aus Zürich bei ihm für dessen Karte, „welche jedoch von der Zensur stark verstümmelt worden sei“. Der Schweizer meint, dass auch seine Ferien bald zu Ende gingen und er selber für das „Vaterland“ wirken müsse. 81
Im Juli findet die Reichskonferenz der revolutionären Jugend in Halle statt. 82Walter ist an der Front. Er scheint müde, aber nicht resigniert. Die Genossen um Herzog und Münzenberg versorgen ihn aus Zürich mit Flugblättern. In Mazedonien finden Soldaten in seiner Feldpost Flugblätter. Er hat Glück, das Feldgericht kann ihm nichts nachweisen und es bleibt beim Strafexerzieren. Nun bitten die Behörden um vorsichtige Ermittlungen über die Familie. 83Die Militärzensur fängt eine kriegsmüde Karte aus Mazedonien ab: „Der Geist des preußischen Militarismus verdirbt systematisch den Charakter. Unter diesem System in seiner extremsten Form hause ich jetzt. Was hier an Menschenschinderei geleistet wird, ist unglaublich. Alle Romantik in der Welt des Kismets geht dabei zum Teufel. Habe jetzt zu Homers Werken Zuflucht genommen, die Brust voll Hoffnung auf bessere Zeiten.“ 84
Per Schreibmaschine notiert der Zensor das gekrakelte Wort für die Akte: „Kismet – im Islam das dem Menschen vermeintlich zugeteilte unabwendbare Schicksal.“
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