Die Leipziger Polizei entfernt schließlich die revolutionären roten Armbinden von ihren Uniformen. Die Revolution ist vorbei. Drei Tage später treffen sich Leipzigs sozialistische Jugendorganisationen „aufgrund der bestehenden Verhältnisse“ im Volkshaus, um eine bessere Zusammenarbeit und Führung zu besprechen. 107Die Jugendlichen haben allen Grund zur Sorge. Aufgrund des Belagerungszustands marschiert die Reichswehr unter General Maercker mit 15 000 Soldaten auf Leipzig zu. Gegen Walter liegt ein Haftbefehl vor. Vorerst entgeht er der Festnahme durch Glück und Kaltblütigkeit. Noch am selben Tag druckt die Leipziger KPD ein Flugblatt, in dem es die Arbeiter auffordert, Maercker an der Grenze Sachsens „zu empfangen“ und den Weg nach Leipzig zu verstellen.
Walter arbeitet weiter unbezahlt in der Propaganda und spricht auf Versammlungen. Der KPD-Versandraum ist in einem Pferdestall in einem Hinterhof. Der Besitzer der Sattlerei im Vorderhaus sympathisiert und lässt die Gruppe durch sein Geschäft ein- und ausgehen. 108Walter erweist sich als Organisationstalent. Die Sittenpolizei verdächtigt ihn wegen seiner Kontakte mit Prostituierten, ein Zuhälter zu sein. Was sie nicht wissen, ist, dass er unter den Frauen ein Netzwerk aufbaut, um Maerckers Truppen auszuhorchen. So ist er über die Pläne der Reichswehr im Bilde.
Aber das Landjägerkorps lernt auch schnell und schreibt, dass Walter „in letzter Zeit auffallend viel mit der Telephonistin Käte Reif im Café Astoria [verkehrt]. Höchstwahrscheinlich, weil er von diesen abgehörten Militärgesprächen erfährt. [Er] geht jetzt stets in Zivil, während er vor dem Einrücken der Regierungstruppen nur Uniform trug. Überwachung der genannten Personen, auch durch Kriminalbeamte ist erforderlich. Bei besonderen Feststellungen sofort Meldung an Jägerstab“ 109. Tatsächlich tut die Armee alles, um ihn zu erwischen. Selbst vor der Wohnung der Familie Ulbricht fährt eine Reichswehrabteilung mit Maschinengewehr auf, um ihn zu verhaften. Weil Leipzig zu gefährlich wird, reist Walter für die Partei nach Flensburg. Hier hat die Revolution nur wenig Echo gefunden. Eine KPD-Gruppe gründet sich erst kurz vor Walters Ankunft. Es mangelt an Kadern, ein Organisationstalent wie Walter wird dringend gebraucht. Zwei Wochen später veröffentlicht das Standgericht I in Leipzig einen weiteren Haftbefehl gegen ihn. Obwohl die Polizei sogar Walters Vater verhaftet und verhört, kommen die Ermittlungen nicht voran.
In Berlin tritt am 20. Juni 1919 das Kabinett Scheidemann zurück. Am Tag darauf bildet der Sozialdemokrat Bauer ein neues Kabinett aus SPD und Zentrum. Die neue Regierung erklärt sich zur Annahme des Versailler Vertrags bereit, falls Deutschlands alleinige Kriegsschuld gestrichen werde. Die Alliierten lehnen ab, die Reichswehr prüft, ob man weiterkämpfen könne. Es hilft nichts.
Am 28. Juni 1919 unterzeichnet die deutsche Delegation unter Protest den „Diktatfrieden“. Erst mit der Ratifizierung des Friedensvertrags heben die Alliierten die Seeblockade einen Monat später auf. Langsam verbessert sich die katastrophale Versorgungs- und Ernährungslage, aber Hunger und Not bleiben allgegenwärtig. In Weimar verabschiedet die Nationalversammlung mit 262 Ja- gegen 75 Nein-Stimmen die neue Verfassung. Das Reich wird zur bürgerlichen Republik. Die Revolution ist vorbei. Nach drei Monaten kehrt Walter aus Flensburg nach Leipzig zurück. 110Hier wohnt er wieder bei seinen Eltern. Kurz darauf ist Freundin Martha schwanger.
Nach seiner Ankunft ermittelt die Polizei Walter als Leiter der Parteifinanzen in Mitteldeutschland und weist Hausdurchsuchung, Leibesvisitation, Beschlagnahmungen und Schutzhaft an. 111Zu dieser Zeit führt Walter für die Partei ein Postscheckkonto mit 11 433 Reichsmark. 112Er geht in der Parteiarbeit voll auf, arbeitet sowohl als Redner in Werdau und Zwickau als Mitglied der Bezirksleitung Westsachsen als auch im Literaturvertrieb. 113Unterdessen schreibt er für die Parteizeitung „Klassenkampf“ und leitet die kleine illegale Parteischule in Schkeuditz. Wie gerade selbst noch, lehrt er jungen Genossen dialektischen und historischen Materialismus, das „Kapital“ und Lenins’ „Staat und Revolution“. Weil die Parteiarbeit ehrenamtlich ist, arbeitet er tagsüber als Tischler, als Markthelfer und hat Gelegenheitsjobs. Stellenweise ist er arbeitslos gemeldet. Trotz der eigenen schwierigen Lage glaubt Walter, dass die Stunde der Revolution da sei. Als ein USPD-Referent der Sozialistischen Jugend im Jugendheim in der Töpfergasse erklärt, der Höhepunkt der Revolution sei überschritten, widerspricht ihm Walter heftig. Ganz im Gegenteil mache Deutschland jetzt wie Russland vor zwei Jahren eine „Kerenski-Periode“ durch. Auch hier werde das Proletariat bald die Macht erobern. In Russland selbst sieht es dagegen eher aus, als würde die Revolution scheitern. Die Rote Armee ist kaum einsatzfähig, ihr Gebiet ist auf Moskau, Petrograd und Tambow geschrumpft. Die Alliierten verhängen eine Wirtschaftsblockade über Sowjetrussland.
Das Blatt wendet sich erst als die Rote Armee unter Trotzki im November 1919 überraschend die Weißen Truppen bei Petrograd schlägt. Walter findet schließlich eine neue Arbeit bei der Tischlerei Paul Bielitz in Leipzig-Volkmarsdorf. Kaum einen Monat später verhaftet die Polizei ihn allerdings in seiner Wohnung. Im Verhör geht es vor allem um seine Rolle beim Verteilen von KPD-Flugblättern. Er überzeugt die Polizei von seiner Unschuld und kommt nach einigen Tagen frei. 114Seine Arbeit verliert er nach der Haftentlassung dennoch.
Der zweite Parteitag der KPD findet in Heidelberg statt. Da die Partei immer noch illegal ist, müssen die Delegierten mehrmals den Tagungsort wechseln. Die Tagung ist geprägt von der Auseinandersetzung zwischen der Zentrale und dem ultralinken Flügel. Die Parteiführung plädiert dafür, sich bei Gewerkschaften zu engagieren und sich an Reichstagswahlen zu beteiligen, während die Ultralinken meinen, die Partei solle eigene Gewerkschaften aufbauen und Wahlen boykottieren. Damit beginnt die Spaltung der Partei. Zwar kostet die Spaltung fast die Hälfte der etwa 100 000 Mitglieder, bereitet aber die Annäherung an die USPD vor. Der folgende Parteitag der USPD in Leipzig ist das zweite „große Ereignis dieses Jahres in der Entwicklung des deutschen Proletariats und damit der deutschen Revolution“ 115. Die Partei schließt eine Kooperation mit der Mehrheits-SPD aus und hält an einer Rätedemokratie fest. Trotzdem kritisiert die KPD die Beschlüsse scharf. Vorerst ist es noch ein weiter Weg zur Kooperation von Kommunisten und unabhängigen Sozialdemokraten.
Walter bleibt klar der KPD verschrieben. Persönlich verändert sich sein Leben aber stark. Am 7. Februar 1920 heiratet er seine hochschwangere Freundin Martha und geht nur eine Woche später wieder auf Reisen. 116Drei Monate nach der Hochzeit bringt Martha im Mai ihre gemeinsame Tochter Dora zur Welt. Dora ist ein kleines, kränkliches Kind, schreit nachts viel. Trotz aller Beschwernisse zeigt Walter sich, wo es geht, als fürsorglicher und zugewandter Vater. Aber gleichzeitig Funktionär und Vater zu sein, erschöpft Walter und strapaziert seine Ehe zutiefst. 117
Mit der Ratifikation tritt der Versailler Vertrag in Kraft. Berlin ist verpflichtet, das Heer auf 100 000 Soldaten zu reduzieren und die Freikorps aufzulösen. 200 000 Freikorpssoldaten stehen vor der Entlassung. Putschgedanken frustrierter, von der Entlassung bedrohter Offiziere treffen jetzt mit rechtsextremen Umsturzplänen zusammen. In Leipzig ist die Polizei durch Informanten hinreichend über Walters Rolle bei der Verbreitung „aufrührerischer Flugblätter“ informiert. Der Untersuchungsrichter verfügt kaum drei Wochen nach seiner Hochzeit erneut einen Haftbefehl, den das Gericht erst im Herbst wieder aufhebt. Walter ist wieder vogelfrei, gerade als die unheilvolle politische Lage eskaliert.
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