Der weite, unbegrenzte Blick über diesen gesegneten Landstrich tut gut nach dem ewig begrenzten Sehen in den Bergen. Bis Mestre war, als ob man durch einen wohlbestellten Garten fahren würde. Jetzt liegt jenseits der Lagunenbrücke Venedig vor ihnen. Ein Traum erfüllt sich. Als sie den Bahnhof verlassen, müssen sie sich auf die Bahnhofstreppe setzen, so ein verwirrendes Bild tut sich auf. Der Süden mit seinen glänzenden Farben, dem leichthin trällernden Leben, dem Stimmengewirr sich anbietender Führer, Fruchtverkäufer, randalierender Bengel, stöckelschuhbehackter tändelnder Damen und kein Wagen – wie traumhaft wirkt das alles auf den Fremdling.
„Vor dem Bahnhof der Gondelverkehr. Statt fester Straßen‚ Wasser. Nicht im kühnsten Spintisieren als Junge habe ich geglaubt, eines Tages auf der Bahnhofstreppe in Venedig zu sitzen. Jetzt sitze ich da, fest und sicher. Aber alles Staunen weicht kühler Überlegung, und wir suchen mit Hilfe der Polizisten unter Gebrauch lebhaftester Gebärdensprache das Asyl für unbemittelte Reisende. Dort angekommen, wirft man uns kurzerhand […] hinaus, mit dem Bescheid, am Abend wiederzukommen. Zwei Tage Venedig. Wie eine unvergleichliche Kulturschatzkammer, wie ein Museum ist diese schwebende, schwimmende Stadt. Nach einem fröhlichen Nachmittag im Volksbad auf dem Lido geht die Reise weiter nach Padua. Dann per pedes apostolorum nach Vicenza, Verona.“ 50Aus Italien schickt Walter der Familie in Leipzig Briefe über die „herrlichen Kunstwerke“, die er mit Otto besichtigt hat. 51„Die schreckliche Hitze macht uns mürbe, und statt nach Mailand und Turin marschieren wir ins Etschtal, nach Torbole und Riva.
Der Gardasee mit seinen zwischen den Uferfelsen zerspritzenden Wellen zaubert die schönsten Farbenspiele. In Riva sollen wir, wie in fast allen besuchten Orten des größten Reiseverkehrs, ein ziemlich teures Nachtquartier beziehen. Nach mancherlei vergeblichem Suchen lassen wir uns … nach einigem Hin und Her von der Hochlöblichen Polizei auf dem Bürgermeisteramt in Schutzhaft nehmen. Doch wie elend wird uns, als man von außen die Zelle verriegelt und wir uns im Dustern auf der Holzpritsche, nur mit Hemd, Hose und Strümpfen bekleidet, zur Ruhe legen. Umso interessanter wird der Morgen. In ein wahrhaft internationales Gasthaus hat man uns gesteckt.
Erfahrene Hände haben mit philosophischen Sprüchen das Leid und die Freuden der Landstraße in bester Kundensprache an die Wände gezaubert. Die Polente kommt dabei nicht zu kurz. Es dauert lange genug, ehe geöffnet wird. Mit dem Segen, uns auf keinen Fall noch einmal sehen zu lassen, dürfen wir uns trollen. Selten hat die Sonne so schön geschienen wie an diesem Morgen“ 52. Sie ziehen weiter, sehen zum ersten Mal einen „breitströmigen“ Gletscher, und machen neben den spektakulären Naturerlebnissen erneut unschöne Erfahrungen. „Das Engadin ist handwerksburschen-feindlich, und wir trachten, auf dem schnellsten Wege über den Albulapass ins Tal des Oberrheins zu kommen.
Dann wieder auf den Gotthard hinauf nach Andermatt und über die vielgenannte Sankt-Gotthard-Straße mit der Teufelsbrücke hinunter zum Tell Denkmal in Altdorf. An und auf dem Vierwaldstätter See erleben wir recht lebendig die Geschichte Tells, die Tellkapelle, den Schillerstein und den Rütli.“ 53Der Weg ist anstrengend und Otto meint hämisch: „Walter [tut] gar tüchtig auf die sakramentschen Berge schimpfen.“ 54Über Stans nach Luzern. Hier wird fleißig Arbeit gesucht, jedoch bekommt nur Walter Beschäftigung in Sempach bei Luzern.
Metallarbeiter sind ausreichend vorhanden und Otto ist überflüssig. Die beiden schlafen im Asyl de nuit, 55bevor sie sich am 16. August trennen. 56Otto zieht es nach Rom. Walter arbeitet ab Januar ein halbes Jahr bei der Tischlerei Gebr. Helfenstein in Sempach und schließt sich der sozialistischen Jugendgruppe unter Willi Münzenberg und Jacob Herzog an. Kurz vor Weihnachten 1911 schreibt er aus Sempach, er studiere den Winter über drei Bände der „Geologie der Schweiz“ 57.
Ab Frühjahr 1912 wandert Walter alleine weiter. Im April arbeitet er bei der Schweizer Schreinerei Fuchs an der Werkbank. Nach sechs Wochen ertappt Fuchs ihn am 25. Mai dabei, wie er auf einem Kasten steht und politische Artikel vorliest. Er wird hinausgeworfen und zieht kurzerhand nach Vorarlberg weiter. 58Vom Vierwaldstädter See wandert er Anfang Juni über Interlaken und Genf nach Zürich. Bei strömendem Regen trifft er in Zürich ein. Er schreibt, es sei ihm auf der Walz so gut wie jetzt noch nie gegangen. Er plant, die Schweiz in Richtung Rhein zu verlassen. Die Arbeiterjugend bittet er um die Adressen jener, die in Kontakt bleiben wollen. 59Über Schaffhausen wandert er rheinaufwärts und findet einen Monat später in der Möbelfabrik Neckargemünd in der Mühlgasse Arbeit. Er wohnt für 3 Mark pro Woche in der Dachkammer der Witwe Kohl in der Hauptstraße. Abends trifft er sich mit den Gesellen in der Wirtschaft „Zum Pflug“ und der Stammkneipe „Ochsen“, diskutiert über Politik und erzählt von seiner Freundin Martha. Er erinnert sich wie er sie bei einer Landwanderung traf. 60Nach vier Wochen wandert er in einem großen Bogen über Köln, Antwerpen, Amsterdam, Bremen, Hamburg und Hannover weiter, bevor er zurück nach Leipzig geht.
Auf allen Stationen besucht er Museen, das Deutsche Museum in München, das Geologische Museum in Genf und die Gemäldesammlungen in Brüssel und Amsterdam. 61Aus Düsseldorf schreibt er am 18. August, dass er bald daheim sei. Auch sein Wandergeselle Otto zieht in Leipzig bei Familie Ulbricht ein. Als Parteifunktionär nimmt Walter ihn ins Volkshaus, zu Reden und Streiks mit. 62







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